Grafeneck
rauswaschen. Wer kann das? Sich erbarmen kann nur einer. Das kann ich nicht. Ich hab kein Recht dazu.
Und? fragt er sich. Kannst du die Geschichte zu Ende bringen?
Ja. Er braucht ein Geständnis. Irgendeiner von denen muß es sagen, nur einmal sagen. Die Wahrheit zugeben, denn die Wahrheit macht frei.
Mauser erschrickt. Was maßt er sich an?
Er will doch bloß, daß sein Vater kein Mörder ist. Er will doch bloß das Alte von ihm behalten, will das Fremde abwehren, das in sein Leben gekommen ist. Ich hab kein Recht dazu, denkt er. Die Pistol hat kein Recht dazu. Aber sie ist ja bloß Werkzeug. Jetzt versteh ich den Vater.
Er spürt das Andenken an ihn wie eine Botschaft über den windüberflogenen Feldern. Der verdüsterte Himmel stellt eine Verbindung her zum Gewesenen, eine Tür öffnet sich, als könnte er hindurchsehen auf das Damals, als könnte er seinem Vater etwas bekennen. Ich bin wie du. Ich müßte dir vergeben, was du getan hast. Aber das kann ich nicht. Ich kann dich nicht hassen. Ich kann dich auch nicht lieben. Aber ich tu’s.
Die Tropfen fallen jetzt dichter. Ein Unwetter hat sich über die Flur heraufgeschoben. Der Wind ist kalt und feucht. Fern sieht er Mattes in seinem Trecker. Er fährt nach Hause. Das sollt ich auch tun, sagt er sich.
In Buttenhausen biegt er von der Hauptstraße ab und fährt zu Veronikas Haus. Weil es von dem Unwetter dunkel geworden ist, hat sie Licht gemacht. Sie ist in der Werkstatt. Der Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe. Mauser will aussteigen und kann sich doch nicht rühren. In den hellen Fenstern sieht er Veronika, wie sie an der Drehscheibe arbeitet. Gern würde er aussteigen und zu ihr nach Hause kommen. In der kleinen Küche sitzen und einen Kaffee trinken. Ihr von allem erzählen. Er wünschte, sie würde ihn verstehen, würde begreifen, was er getan hat und warum er es tun mußte. Würde ihm jemanden nennen, zu dem er gehen könnte mit seinem Geheimnis, einer, der es ihm abnimmt.
Die Zeit vergeht. Nur das Rauschen des Regens ist zu hören.
Wenn jetzt der Kommissar hier wär, denkt Mauser.
15
Wieder das Zimmerchen unterm Dach. Das Bett, der Schrank, die Dusche. Der kleine Tisch mit dem Stuhl davor. Greving kommt es vor, als sei er nie weg gewesen. Die Kreisstadt liegt weit entfernt, hinter den Bergen bei den Sieben Zwergen, oder nein: Dieses Dorf liegt dort. Ich bin zu Besuch hinter den Bergen, denkt Greving. Mal sehen, was mir die Sieben Zwerge zu sagen haben.
Die Tage in der Stadt haben gutgetan. Kaum ist er hier, lastet wieder die seltsame Bedrückung auf ihm, die dieser Leichenfund mit sich gebracht hat. Er hat das Gefühl, daß er hier nichts tun kann. Mit den Leuten reden und erfahren, daß sie nichts wissen und nichts wissen wollen. Überall trifft er auf die Ruinen der Vergangenheit, auf alte Geschichten, die ihm niemand erzählt, auf Mauerzähne aus wenigen Daten, die niemand leugnen kann, auf geheime Gänge und dunkle Kammern. Da gibt’s doch eine Ruine im Nachbardorf, sagt er sich und räumt den Schrank ein. Da sollte ich mal hingehen. Im Schutt wühlen. So komme ich mir vor.
Die Untersuchungen in der Stadt haben Ergebnisse gebracht. Er hat einiges mehr in der Hand als zuvor, er hat etwas, womit er von Tür zu Tür gehen kann. Einen vor fünfzig Jahren begangenen Mord aufzuklären, haben die Kollegen gesagt, da möchten sie nicht mit ihm tauschen. Noch nicht einmal die Tatwaffe, und wer der Tote war, wird man wohl nicht herausfinden. Aber die moderne Kriminaltechnik hat mehr Möglichkeiten, als man denkt. Aus dem Aktenkoffer holt er den Stapel mit Bildern, die er hat machen lassen. Er schaut sich das Bild noch einmal an.
Der Tote mit Fleisch im Gesicht.
Die Mumie zum Leben erweckt. Obwohl das Computerbild weit entfernt ist von einem lebendigen Portrait. Aber da ist ein Mund mit Lippen, die dünn sind und verletzlich, verschlossen wirken. Ein Kinn, das glatt rasiert ist. Eine Nase mit breiten Nasenflügeln. Augen, die einen beinahe anschauen. Und vor allem: ein großes Muttermal auf der rechten Wange, unter dem Auge. Ohne den Grad an Mumifizierung, den die Leiche aufwies, wäre eine solche Rekonstruktion nicht möglich gewesen. Ein Muttermal.
Damit werde ich von Tür zu Tür gehen, denkt Greving. Hier und in den umliegenden Dörfern. Irgendeiner wird ihn gekannt haben, und irgendeiner wird reden.
Der Mann sieht eigentlich nicht wie ein Behinderter aus. Aber wie sieht ein Behinderter aus?
Das mit dem Kreidekreuz haben wir auch
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