Gralszauber
er den Kopf in die Tür – und erlebte
eine Überraschung.
Dagda saß mit dem Rücken zur Tür an dem windschiefen Möbelstück, das er als seinen Studiertisch bezeichnete.
Vor ihm lag ein aufgeschlagenes, in schweres Leder gebundenes Buch, wie sie seine Regale zu Dutzenden füllten.
Aber es war nicht irgendein Buch.
Die Seiten dieses Buches glühten in einem unheimlichen, gelben Schein und die Buchstaben selbst loderten in
grellem Rot, als hätten sie Feuer gefangen. Und sie schienen sich zu bewegen!
Und das war noch nicht einmal das Unheimlichste.
Viel unglaublicher war der Anblick, den die gegenüberliegende Wand bot.
Eigentlich sollten dort grober Stein und die Tür zu Dagdas Schlafgemach sein, aber stattdessen loderten dort grelle, prasselnde Flammen, die aber sonderbarerweise keinerlei Hitze auszustrahlen schienen. Sie bildeten eine Art Tor,
durch das hindurch Dulac einen Blick in eine Welt werfen
konnte, die einfach zu bizarr war um Wirklichkeit zu sein.
Er sah auf eine schier endlose, von blühenden Bäumen
und Wildblumen bestandene Ebene hinab. Das dünne Silberhaar eines Flusses schlängelte sich in zahllosen Kehren
und Windungen dem Horizont entgegen, der von einer
Kette gewaltiger, schneegekrönter Berge gebildet wurde.
Im Vordergrund waren etliche ganz und gar unglaubliche Wesen zu sehen: ein schneeweißes Einhorn, eine Anzahl winziger tanzender Lichtpunkte, die sich bei genauerem Hinsehen als kaum handgroße Elfen entpuppten, und
auch einige Geschöpfe, die Dulac ganz und gar nicht beschreiben konnte. Weit entfernt, eigentlich eher zu ahnen
als wirklich zu sehen, schimmerte ein fragiles Gebilde aus
Silber und Gold, vielleicht ein Schloss, vielleicht auch
etwas vollkommen Fremdartiges. Und so wunderschön
und faszinierend dieser Anblick auch war – er machte Dulac gleichzeitig auch Angst.
Gwinneth erschien neben ihm, riss ungläubig die Augen
auf und schlug die Hand vor den Mund, konnte einen kleinen, erschrockenen Schrei aber nicht mehr ganz unterdrücken.
Dagda fuhr so heftig zusammen, als hätte er einen
Schlag bekommen. Das Bild an der Wand flackerte; die
Flammen an seinen Rändern loderten höher und nun spürte Dulac Hitze. Die grasenden Einhörner auf der Ebene
fuhren so erschrocken zusammen, als wäre der Blitz unter
sie gefahren, und galoppierten in panischer Flucht davon
und Dagda wirbelte mit einer unglaublich schnellen Bewegung auf seinem Stuhl herum. Gleichzeitig schlug er
mit einem Knall das Buch zu. Die Flammen an der Wand
loderten noch einmal hell auf, verschlangen das Bild in
ihrer Mitte und erloschen und etwas Silberhelles, fast Unsichtbares schien für einen Moment aus dem Bild herauszugreifen und dann zu erlöschen.
»Was –?!«, keuchte Dagda. Dann riss er die Augen auf
und starrte Dulac fast entsetzt an. »Dulac? Du?«
»Ja … Herr«, antwortete Dulac stockend. Er wünschte
sich zur Größe einer Maus zusammenzuschrumpfen oder
im Boden versinken zu können.
»Was tust du hier?«, fuhr ihn Dagda an und sprang so
heftig auf, dass sein Stuhl zu Boden krachte. »Und wer ist
das Mädchen bei dir?«
Er wies mit der Hand auf Gwinneth, die noch immer in
unveränderter Haltung neben Dulac stand: mit aufgerissenen Augen, die rechte Hand vor den Mund geschlagen und
die linke wie zur Abwehr ausgestreckt.
»Ich habe dich etwas gefragt!«, herrschte ihn Dagda an,
als er nicht sofort antwortete. Dulac konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so zornig erlebt zu haben.
»Das ist Gwi…« Er verbesserte sich hastig. »Giselle.
Eine … eine Freundin. Aus der Stadt.«
»Eine Freundin?« Dagdas Augen wurden schmal. »Ich
wusste gar nicht, dass du eine Freundin hast. Und wieso
kenne ich sie nicht, wenn sie in der Stadt lebt?«
»Wir sind erst vor ein paar Tagen hergezogen«, sagte
Gwinneth. Sie hatte sich wieder gefasst, wirkte aber immer noch sehr blass und ihr Blick wanderte immer wieder
zu der Wand, auf der sie das Trugbild gesehen hatten.
»Es ist meine Schuld«, fuhr Gwinneth fort. »Ihr dürft
ihn nicht bestrafen, Herr. Er wollte es nicht, aber ich habe
so lange gebettelt, bis er schließlich ja gesagt hat.«
»Ja wozu?«
Die Frage galt Dulac, aber es war auch jetzt wieder
Gwinneth, die sie beantwortete. »Ich wollte Camelot sehen«, sagte sie. »Die Burg König Artus’.«
»Und natürlich seinen närrischen alten Hofzauberer«,
fügte Dagda finster hinzu.
»Also so hat er Euch eigentlich nicht beschrieben«, antwortete Gwinneth. Ein schüchternes
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