Granatsplitter
entschied, vom Lastwagen hinunterzuspringen und in die Schule zurückzugehen. Beim Abendessen am gleichen Abend passierte es dann. Er musste von seinem Tisch aus auf die Empore hinaufgehen, um sein Essen zu holen. Auf der Empore, am runden Tisch, hatte in dieser Woche der Referendar, dem er wenige Stunden vorher nicht gehorcht hatte, die Saalaufsicht. Als er an ihm vorbeischritt, rief ihm dieser etwas Beleidigendes zu. Er drehte sich um und fragte selbst in einem scharfen Tonfall, was er eigentlich wolle. Und plötzlich hatte er den Eindruck, der Referendar hole mit der Hand aus, und die Folge dieser absichtlichen oder unabsichtlichen Handbewegung war, dass er dem Referendar die Faust ins Gesicht schlug. Während der Referendar zurücktaumelte, waren schon zwei andere Lehrer herbeigeeilt, um ihn vor weiteren Misshandlungen zu schützen.
Nicht die ganze Schule, nicht einmal der ganze Esssaal hatte das, was passiert war, mitgekriegt. Dafür ging alles viel zu schnell. Aber es machte sofort die Runde. Was für eine Aufregung! Ein Referendar war zu Boden gegangen! Am nächsten Tag gab es schulfrei. Das Lehrerkollegium tagte stundenlang. Schließlich wurde er gerufen und man teilte ihm mit, dass er eigentlich die Schule verlassen müsse. Man würde ihm aber, ein Jahr vor dem Abitur, noch eine Chance geben. Er hätte sich im nächsten Trimester vor der Versetzung in die Oberprima als Zimmerführer eines sehr schwierigen Zimmers zu bewähren, damit er endlich die Verantwortung und die Reife, die ihm zur Zeit offenbar noch immer fehle, erlangen könne. Es folgte eine Art Zeremonie. Er musste sich in Gegenwart des ersten Helfers, einem äußerst höflichen, liebenswürdigen Jungen – der auch im Chor war und einen Ring mit Wappen trug –, bei dem Referendar entschuldigen. Obwohl er fühlte, was für ein Kelch an ihm vorbeigegangen war, konnte der verletzte Stolz, sich ganz offiziell entschuldigen zu müssen, es nicht unterlassen, die Entschuldigung in einer Form hervorzubringen, die alles andere als bescheiden klang. Er sagte, es solle nicht wieder vorkommen. Er hatte sich diesen Satz keineswegs zurechtgelegt, er rutschte einfach aus ihm heraus. Der Referendar, der nur etwa sechs Jahre älter war als er selbst, sagte kein Wort, der musikalische erste Helfer sagte einen würdigen Satz. Dann war alles vorbei.
Er hörte später, wie knapp die Entscheidung gewesen sei, dass er doch noch auf der Schule bleiben durfte. Die Regisseurin war für ihn eingetreten. Er bekam noch eine Chance. Das Zimmer, für das er im nächsten Trimester verantwortlich wurde, war tatsächlich schwierig. Vor allem Ansgar, ebenfalls Sohn einer alten Familie, der sowohl schulisch als auch im Internat nicht den Anforderungen entsprach, forderte ihn heraus. Er war ein besonders gutaussehender Junge, groß, kraftvoll, ein zugleich imponierendes wie auch sympathisches Gesicht mit ausgeprägten, charaktervollen Zügen. Ansgar hatte sechs Jahre zuvor als noch ziemlich kleiner Junge bei dem letzten Sturm der russischen Armee mitansehen müssen, was seiner Mutter geschah, als der Familiensitz verwüstet worden war. Das jedenfalls hatte man ihm gesagt, damit er auf Ansgars manchmal seltsames Verhalten richtig reagiere. Ansgar gehörte auch zu denen, die Tanzfeste organisierten, und er hatte ebenfalls einen Siegelring, an dem er auch sehr häufig drehte. Zunächst lief alles einigermaßen gut. Aber eines Abends, als er die Bettdecke aufschlug, fand er dort eine tote Ratte. Diese Überraschung hatte sich Ansgar ausgedacht. Beinahe hätte er sich ihn vorgenommen, auch wenn Ansgar, zwei Jahre jünger, schon wie ein erwachsener Mann wirkte und stärker war als er selbst. Aber schließlich ließ ihn die Untat ungerührt. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass vor kurzem ein neuer junger Lehrer angekommen war, der vor allem im Platonarchiv arbeiten sollte. Er war nicht festangestellt, denn er hatte eine Assistentenstelle an der philosophischen Fakultät der Universität unten im Tal. Und zwar bei Professor Heidegger, wie sich schnell herumsprach. Dieser Philosophieassistent hatte soeben ein Buch des Professors, Holzwege , ins Französische übersetzt. Er war während des Kriegs in Frankreich aufgewachsen und sprach französisch wie seine Muttersprache. Sein Vater hatte das Land aus politischen Gründen verlassen müssen. Sein jüngerer Bruder war zu dieser Zeit als Sekundaner auf der Schule, ohne allerdings den hochbegabten Älteren erwähnt zu haben. Der Ältere
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