Granatsplitter
um die Geschichte, wie ein junger, zum Priester ausersehener Mann der Sinnlichkeit und Todsünde verfällt. Das war zwar zunächst spannend und immer wieder wie in einem Kriminalroman. Gleichzeitig wurden die erotischen Empfindungen des Helden berichtet, die nichts für Jugendliche waren. Als er die Wörter »glühender Atem« und »wollüstige Qual« vorlas, gab es die ersten Reaktionen des einen oder anderen im Bett liegenden Obertertianers, der offenbar wie der Held im Roman ein »Weib« im Arme halten wollte. Noch schlimmer wurde es, als von der »unbezähmbaren Wollust« die Rede war. Es war eine Katastrophe. Der Busen und die Küsse, die auf ihm brannten, das war zuviel. Er tat zwar in Unschuld so, als ob das alles die reinste Literatur sei, aber er musste sich eingestehen, dass auch er selbst beim Lesen unmerklich lüstern wurde. Der Busen blieb jedenfalls alles andere als literarisch.
Am nächsten Tag sollte er zum Geschichts- und Deutschlehrer kommen, der auch zuständiger Hauserwachsener war und ihm den Auftrag des abendlichen Vorlesens anvertraut hatte. Eine zornige Strafpredigt ergoss sich über ihn. Ob er denn nicht gewusst habe, dass das Vorlesen dazu dienen sollte, dass die Vierzehnjährigen auch richtig einschliefen und nicht auf irgendwelche Gedanken kämen? Der Lehrer war ganz außer sich. Es habe eine Art Onaniewettbewerb gegeben, nachdem er weggegangen sei. Am nächsten Tag rief der Lehrer sogar laut im Treppenhaus, als sehr viele Schüler und Schülerinnen in der Pause versammelt waren, ab jetzt würde nicht mehr onaniert, das sei eine Anweisung.
Entscheidend für die Veränderung seiner Stimmung war etwas anderes. Seit einiger Zeit bemerkte er, dass einige Schüler, die neu auf der Schule waren, einen Tonfall an sich hatten, den er bisher nicht gehört hatte und der ihm zuwider war. Es war vor allem ein Schüler aus der Klasse unter ihm, der um sich herum einen Kreis bildete und eine betont banale, forsche Art zu reden verbreitete. Peter kam aus einer sehr reichen Industriellenfamilie aus dem Rheinland. Er benahm sich sofort sehr laut. Eben wie einer aus der normalen Staatsschule, so dachten sie. Peter hatte keinerlei Respekt gegenüber der Art und Weise des Redens, die sich unter dem jahrelangen Einfluss der alten Lehrer ausgebildet hatte, sowohl in der Klasse Rüdigers, Konrads und Feos, aber auch in der eigenen Klasse mit Adrian, Alex und Eberhard. Als er mit dem Geschichtslehrer darüber sprechen wollte, antwortete dieser kühl, er solle sich etwas mehr an das gewöhnen, was normal sei. Der Peter aus Wuppertal sei ein sehr vernünftiger Junge, der sogar das Zeug hätte, einmal erster Helfer zu werden. Das war es. Er selbst würde nie erster Helfer werden. Obwohl Peter ein miserabler Schüler war, offensichtlich ohne eigene geistige Interessen, legte er ein Selbstbewusstsein an den Tag, das fast unheimlich war. Peter war dabei für viele andere offen und sympathisch. Die beiden, die bald die besten Freunde Peters wurden, waren sogar zwei Klassen über ihm und alles andere als auf den Kopf gefallen, sondern besonders intelligent. War er der einzige, der das plötzliche Auftreten Peters und seiner Freunde als eine Bedrohung des bisherigen Schulklimas empfand? Er nannte sie »Die Drei von der Tankstelle«, nach dem berühmten Film, der wieder oft gespielt wurde. Das Ganze wurde für ihn noch bedrückender, als diese Gruppe begann, exklusive Tanzabende für das Wochenende zu organisieren. Nur wer eingeladen war, konnte hingehen. Es gab ein Grammophon mit wunderbaren alten Platten aus den dreißiger Jahren. Ein Großteil der Schülerinnen der höheren Klassen war dabei, auch eine Reihe von Schülern mit Ring. Er und Adrian und ihre Freunde wurden nie eingeladen. Adrian konnte sowieso nicht tanzen, er selbst wollte nicht, obwohl er es ja während des letzten Faschingsfests regelrecht gelernt hatte, Foxtrott und Tango, Walzer weniger. Dieses Faschingsfest war ihm noch tagelang durch den Kopf gegangen. Es war ein Rausch phantastischer Kostüme gewesen, der ganze Esssaal verkleidet wie ein Feenmärchen, kaum ein Schüler oder Lehrer war noch zu identifizieren gewesen. Er hatte vor allem mit der Frau des 20. Juli-Mannes getanzt, die ein Zigeunerkostüm anhatte und in dieser Aufmachung ungewöhnlich anziehend wirkte. Sie sah mit ihren vierzig Jahren sowieso noch immer sehr jung aus. Die verkörperte Weiblichkeit. Er hatte noch nie zuvor eine solche körperliche Nähe zu einem weiblichen Wesen
Weitere Kostenlose Bücher