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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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dieser neue Lehrer beide zusammendachte, abgesehen davon, dass er ihnen erzählte, dass Sartre von Heidegger gelernt habe, blieb ihm völlig dunkel. Denn Sartre, das war für ihn das Drama Die Fliegen und das Wort »Freiheit des Einzelnen«. Das hatte doch gar nichts mit den Dingen Heideggers zu tun.
    Der junge Philosoph erklärte ihnen vor allem, was Existentialismus bedeutet. Er erklärte ihnen das mit so viel Feuer, so viel Leidenschaft, dass selbst Adrian davon gefangen wurde. Was die Existentialisten trieben, davon hatte er in der Heimatstadt etwas mitbekommen. Es gab dort ein sogenanntes Kellerlokal mit dem Namen »Tabu«. Dort spielte man die neue amerikanische Musik, Boogie-Woogie und den Chattanooga Choo Choo . Vor allem aber auch Jazz. Das Wort »Jazz« hatte früher in diesem Lande auf der Verbotsliste gestanden. Es gab einmal einen Schlager, an dessen Melodie und Worte er sich erinnerte, und der hieß »Heut’ ist Negerjazz auf dem Alexanderplatz. Alle Leute bleiben stehen, um den Jazz zu sehen«. Das konnten nur Leute gesungen haben, die von nichts eine Ahnung hatten. Waren die Menschen in diesem Land früher wirklich so ahnungslos? Im »Tabu« tanzte man jetzt mit Kreppsohlenschuhen und kurzen Socken, die auffällig gemustert waren, und diese Leute wurden Existentialisten genannt. Natürlich wusste er, dass es vor allem um eine Philosophie aus Paris ging. Aber was für ein Lebensgefühl dahinter steckte, wusste er bisher nicht. Jetzt aber, als der philosophische neue Lehrer davon sprach, ging ihm zumindest ein Licht auf. Zum Beispiel die individuelle Freiheit. Die sei das, was dem Menschen immer bliebe und bleiben müsse. Philosophisch sei die zukünftige Zeit dadurch zu bestimmen, inwiefern die Freiheit jedes Einzelnen verwirklicht werden könne. Nichts hörte er lieber. Jeder habe immer die Möglichkeit, diese Freiheit zu wählen. Die Wahl selbst sei schon ein Ausdruck von Freiheit. Die Diskussion mit dem Ostberliner Schüler fiel ihm ein. Nach dessen Behauptung gab es ja so etwas wie die individuelle Entscheidung eines Einzelnen gar nicht. Das wäre erstens gar nicht möglich und zweitens auch gar nicht wünschenswert. Nun hörte er sogar von einer neuen Philosophie der Freiheit. Als er den Assistenten fragte, was denn sein Philosophieprofessor dazu sage, setzte dieser zu einer sehr langwierigen Antwort an. Es ging um das Sein, das Selbst und viele andere Begriffe, die er durcheinanderwirbelte. Zum Beispiel hatte Heidegger eine Theorie der Angst formuliert. Aber was hatte diese Angst mit der Freiheit Sartres zu tun? Sie saßen bei diesen Erklärungen häufig unter freiem Himmel im Garten, und der Philosoph war nicht gehalten, pädagogisch zu reden.
    Entscheidend für ihn wurde Sartres Drama Die Fliegen , das es schon in deutscher Übersetzung gab. Er war von der ersten Szene an gefangengenommen. Plötzlich hatte sich sein Griechenland, wie es sich in der Schule in ihm als Bild entwickelt hatte, ins Unheimliche verwandelt. Zeus hieß Jupiter und war der Gott der Fliegen und des Todes. Seine Statue hatte weiße Augen und ein blutverschmiertes Gesicht. Das war das eine, die absolute Düsternis, die über den anziehenden Schrecken seiner Agamemnon-Erinnerungen weit hinausging. Das andere war die Sonne, die zitternde Luft. Eine Atmosphäre, die Tragik und Furcht ausdrückte. Und dann der Orest! Dieser sprach von Anfang an von einer Tat. Und davon, wie frei er sei. Er sei so frei, dass er nirgendwo hingehöre. Dieser Satz setzte sich in ihm fest. Er erkannte zwar, wie die alte griechische Geschichte von der Rache des Sohnes an der Mutter, die den Vater ermordet hatte, wiederholt wurde. Aber eben unter dem vollkommen neuen Gesichtspunkt der alles verändernden Tat. Die Tat selbst war es, nicht der Grund für sie, also die alte Geschichte.
    Aber durch die alte Geschichte hindurch, so sah er ihn vor sich, ging Orest, vielleicht ähnlich modern angezogen wie der Orpheus im Film. Und trotzdem war alles antik an ihm. Das lag daran, dass er, wenn es darauf ankam, ganz einfache Sätze sprach, zum Beispiel in der Unterhaltung mit der Schwester Elektra. Das Einfache daran war anders einfach als in Hemingways Erzählungen, an die er wiederum dachte. Es ragte aus dem Alltäglichen heraus. Es hatte etwas Hohes. Auch die Beschreibung von Klytämnestra. Orestes’ erste Reaktion auf ihr Äußeres, auf ihre toten Augen, wie er sagte, gehörte dazu. Wie alles Antike ins Moderne umgestülpt war und trotzdem antik blieb,

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