Granatsplitter
gespürt. Die Hand auf ihrer Schulter, die Berührung bei der Drehung im Rhythmus der Melodie löste einen tranceartigen Zustand aus, den er nur mühsam überspielen konnte.
Da der Geschichtslehrer kein Ohr für seine Bedenken hatte, schüttete er sein Herz dem Griechischlehrer aus, der einer ähnlichen Meinung war wie er. Er fand die Tatsache, dass bestimmte Schüler eingeladen würden und andere nicht, völlig unpassend. Nicht weil sie benachteiligt würden, eine Zurücksetzung empfanden sie ja auch gar nicht, sondern weil so etwas nicht zur Schule passte. Der Griechischlehrer benutzte das Wort »neureich«, um die Veränderung zu charakterisieren. Viel Geld in der Wirtschaft zu verdienen, galt ihm als verächtlich. Das hatte der Junge schon einmal gehört: von einem Mitarbeiter seines Vaters. Dieser Mann hatte Germanistik studiert, aber kein Abschlussexamen für den Staatsdienst gemacht. Und so schlug er sich einfach durch. Er hatte ihm Rilkes Sonette an Orpheus vorgelesen. Sogar das Fach des Vaters, Volkswirtschaft, galt ihm als akademisch minderwertig. Der Junge hatte den Eindruck, dass es auf der Schule verpönt war, Geschäftsmann zu sein. Tatsächlich kamen sehr viele Schüler, jedenfalls diejenigen, die als wichtig auffielen, in der ersten Zeit nach dem Krieg aus akademischen oder adligen Familien. Einige von ihnen erhielten Stipendien. Der eigene Vater war mit den Schulzahlungen immer hinterher, sodass sich eine beträchtliche Schuldensumme anhäufte. Wenn er aber gehört hätte, was einige Lehrer in der Schule oder Leute aus seinem eigenen privaten Kreis über Geschäftsleute oder auch Ökonomen an der Universität sagten, hätte er sie zur Rede gestellt. Vielleicht ihn sogar von der Schule genommen. Der Vater kannte diese hochnäsigen, auf ihn lächerlich wirkenden Ansichten über alles Ökonomische ja schon seit seiner Studienzeit vor fünfundzwanzig Jahren, als er ganz bewusst Nationalökonomie studierte und sich fernhielt von den Korpsstudenten aus Medizin und Jura.
Insofern war diese plötzliche Veränderung in der Atmosphäre des Internats für ihn widersprüchlich. Es gab sie aber. Er spürte es, weil es ihn mehr betraf als manche andere, und es wurde stärker. Die Söhne aus der Geschäftswelt, so fand er, gaben jedenfalls den neuen Ton an. Man hörte auch, dass gerade ihre Väter es waren, die sich für die Schule engagierten und Gelder spendeten. Kein Wunder also, dass die Schuldirektion nichts gegen die Tanzabende hatte. Aus Lust an der Störung gingen er und der Griechischlehrer bei der nächsten Gelegenheit dieser Abende in das große, zum Tanzen leergeräumte Klassenzimmer und verwickelten den ersten Besten in ein Gespräch oder – besser: sie ironisierten diese neue Geselligkeit im Abenddress als spießig. Derjenige, mit dem sie sprachen, war ein Schüler mit einem Ring, an dem er auch sofort zu drehen anfing. Er antwortete gar nicht auf diese Charakteristik, sondern sagte sehr ruhig und bestimmt: Dieses Fest sei von der Schulleitung erlaubt worden, es gebe gar nichts dagegen einzuwenden. Fertig. Was sie beide vorbrächten, sei ausschließlich ihre eigene Sache. Ein paar Tage später hörte er, dass ihr vergeblicher Besuch auf der Tanzfläche offiziell übel aufgestoßen war. Irgendjemand hatte den Schuldirektor von der Störung wissen lassen. Diesmal ging die Kritik aber direkt an den Griechischlehrer, der ohnehin bald die Schule verlassen würde und ja nie zum engen Kreis des Platonarchivs gehört hatte.
Der sehr viel ernstere Zwischenfall, der sich einige Zeit danach ereignete, hatte indirekt auch etwas mit den Veränderungen zu tun, spielte sich aber in einem ganz anderen Schulbereich ab. Er selbst war seit anderthalb Jahren Mitglied des Schulchors. Wie er – der außer Adrian der einzige seiner Klasse war, der kein Instrument spielte, keine Noten lesen konnte und sich für grundsätzlich unmusikalisch hielt – zu dieser Ehre gekommen war, blieb ihm eigentlich immer verborgen. Wegen seiner guten Stimme, geeignet für den Tenor, und weil es dem Chor an solchen Stimmen ermangelte? Wenn sie auftraten, es war meistens Bach oder Schütz, stand er immer in der Nähe von Rüdiger, damit er die Stimme hielt, wenn der Bass oder, noch gefährlicher, der Sopran der Mädchen einsetzte.
Eines Tages war die Tenorgruppe für eine Übungsstunde mit der Orgel in der Dorfkirche angesagt. Man fuhr auf einem offenen Lieferwagen in Richtung Dorf. Plötzlich überkam ihn ein Widerwille, der schon seit
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