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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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längerer Zeit in ihm rumort hatte. Das Singen im Chor war nichts für ihn. Ohne weiter über diese oder jene Folge nachzudenken, klopfte er an die Hinterscheibe der Fahrerkabine, rief dem Fahrer zu, er möge bitte einmal halten und sprang mit einem Satz über die Bretterbrüstung des Lieferwagens. Er sei nicht mehr im Chor, rief er den verdutzten Sängern zu. Unter den Zurückbleibenden war auch ein junger Referendar, der eine feste Anstellung an der Schule hatte und zuständig für die alten Sprachen, aber auch für das Platonarchiv war. Der geriet außer sich und drohte ihm, wenn er nicht sofort wieder aufsteige, die allerernstesten Konsequenzen an.
    Diese drohende Ansprache bestärkte ihn in seinem Entschluss, mit dem Chor nichts mehr zu tun haben zu wollen, und er machte sich, ohne eine weitere Antwort zu geben, auf den Weg zurück ins Internat. In ihm hatte sich zu viel aufgestaut. Zuerst gefiel es ihm sehr, im Chor zu singen. Er war bei der Aufführung von Bachs Bauerncantate dabei und konnte die Melodie der Strophe »Gib Schöne viel Söhne von edler Gestalt« nicht oft genug hören und singen. Der Chorleiter war der bei Kennern hochgeschätzte Professor Thomas, der seit Jahren regelmäßig für sechs Wochen im Sommertrimester auf die Schule kam, um mit dem Chor ein für das Sommerfest besonders geeignetes Stück einzustudieren. Sogar Albert Schweitzer kam einmal aus Straßburg, um ihnen auf der Orgel vorzuspielen. Albert Schweitzer hatte diese Orgel einem seiner Klassenkameraden geschenkt, der den Namen Yngve hatte und der Stiefsohn von Hans Henny Jahnn war. Er war ein brillanter Mathematiker und komponierte sogar schon. Er war nicht sehr lange an der Schule geblieben. Auch wegen Yngve kam ihm die Schule wie ein musikalisches Fest vor, und obwohl er ja keine Ahnung von klassischer Musik hatte, war er ihr durch seine Mitgliedschaft im Chor näher gekommen. Wenn Professor Thomas im Sommer da war, lud ihn die Regisseurin, mit der er so eingehend über die Ereignisse des Sommers 44 gesprochen hatte, zusammen mit Rüdiger zu kleinen Autotouren in die Gegend ein. Ihr Picknick bestand aus Brot, Käse, Tee oder Wurst und manchmal einer Flasche Wein. Wenn sie dann auf einer Decke lagerten, legte sie auf dem mitgebrachten Grammophon die eine oder andere Platte auf. Nicht nur Klassik, auch Schlager. Für ihn waren diese Fahrten ins Freie eine Herausforderung, sich bei den Gesprächen, die sich meist um Musik drehten, nicht zu blamieren. Da er der Jüngste war, fiel sein Schweigen immerhin nicht weiter auf. Diese Landpartien und das gemeinsame Singen unter der Leitung von Professor Thomas änderten aber nichts daran, dass er anfing, das ständige Musizieren als etwas zu viel des Guten zu empfinden. Es gefiel ihm nicht, wenn sie Sonnabend für Sonnabend auf den langen Stuhlreihen im Esssaal saßen und einem auf der Empore sitzenden berühmten Pianisten oder Cellisten anderthalb Stunden stumm zuhören mussten. Ihm gefiel der Ernst nicht, der sich auf den Gesichtern ausbreitete. Ohne genau sagen zu können, was es war, stieß ihn eine bestimmte Art von Gemeinschaftlichkeit ab. Vielleicht war es einfach der fromme Ausdruck, den er nicht mochte, die Unterwerfung, die stillschweigende Übereinkunft, den Mund zu halten.
    Wenn er Feos schönes, nur dem Hören hingegebenes Gesicht sah, dann bewegte sich in ihm eine Gegenwehr. Er spürte den Reiz, diese Feierlichkeit zu unterbrechen. Wenn er dagegen einem griechischen Drama zugehört hätte, dann wäre ihm die Lust zu stören nicht hochgekommen. Es war ein Unterschied, einem Theaterstück zu folgen oder einer Musikaufführung. Es kam hinzu, dass das, was ihm so brav, so untertänig vorkam, tatsächlich besonders bei Schülern auftrat, die wirklich etwas brav waren. Adrian war nicht so. Aber Peter aus dem Rheinland war einer von ihnen. Als sie an einem Sonntagmorgen vor dem Frühstück im Chor das Lied »Die güldne Sonne, voll Freud’ und Wonne« zu singen hatten, platzte er fast vor innerer Feindseligkeit. Die Frau des Verschwörers merkte das und fragte ihn, was er denn hätte. Und da erklärte er ihr, dass ihm speziell dieses Lied auf die Nerven ginge. Er begrüße die Sonne am Sonntagmorgen nicht voll Freud’ und Wonne. Es sei doch nur ein Lied, erwiderte sie und lachte, obwohl sie sehr wohl verstand, was ihn bedrückte. Jedenfalls wurde ihm zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass er keine Lust mehr hatte, weiter im Chor mitzusingen.
    Das war die innere Stimmung in ihm, als er

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