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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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war das glatte Gegenteil des Jüngeren. Dieser war ein sanfter, stiller, an Musik und sogar an Sport interessierter Schüler. Der Ältere war ein temperamentvoller, laut lachender, ungeheuer witziger Mensch. Wenn er seinen dunklen Kinnbart strich und lächelte, dann konnte man darauf gefasst sein, dass irgendetwas Herausforderndes aus seinem Mund kommen würde, gefolgt von einem dröhnenden Lachen. Dieser auffallende Mann entwickelte ein besonderes Interesse an ihrer Klasse, obwohl er sie nicht unterrichtete. Er hatte ihnen etwas Wichtiges zu sagen: Sie müssten das Leben leben lernen.
    Das kam dem Jungen gelegen, denn er hatte gerade Hemingway entdeckt. Die 47 Stories lagen irgendwo herum, er blätterte darin und war elektrisiert. An Hemingways Geschichten beschäftigten ihn vor allem die kurzen Unterhaltungen. Zum Beispiel die scheinbar banalen Sätze zwischen Vater und Sohn in der Erzählung Im Indianerlager . Und der eigenartige Ton, in dem die einfachsten, unwichtigsten Sätze gesagt wurden. Die Geschichte zwischen Jim Gilmore und Liz aus Oben in Michigan wirkte eigentlich langweilig im Vergleich zu den eher hochdramatischen Situationen oder einfühlsamen lyrischen Bildern, die ihn bisher gefesselt hatten. Zum ersten Mal nahm er wirklich wahr, was man »modern« nannte. Das ganz Selbstverständliche, Normale, Alltägliche wurde plötzlich nachdenkenswert. Der dramatische Augenblick, wenn Jim schließlich mit Liz geschlafen hatte und dann alles wieder zurückfiel in den absehbaren Alltag, das beeinflusste seine Lust am Nachdenken über das Leben. Von den Wortwechseln blieb vor allem einer aus Im Indianerlager haften. Der Sohn fragt den Vater: »Ist Sterben schwer?«, und der antwortet: »Nein, ich glaube, es ist ziemlich leicht, Nick. Es kommt darauf an.« Und der letzte Satz des Erzählers, dass der Sohn überzeugt davon sei, dass er niemals sterben würde, flößte ihm sogar das Glück eines Lebensgefühls ein, das nur darauf gewartet hatte, so etwas zu hören oder zu lesen.
    Hemingways Geschichten trafen ihn mit einer Wucht, über deren Ursache er sich erst allmählich Rechenschaft ablegte. Es war in der Tat das Gegenteil zu dem hohen Ton der griechischen Tragödie und auch dem hohen Ton, in dem der Griechischlehrer über das Moderne und über Baudelaire gesprochen hatte. Die Aufführung von Unsere kleine Stadt war gefolgt, und seine Neigung zum Geheimnisvollen war auch dort befriedigt worden: Die eigentümliche Vergegenwärtigung jedes normalen Augenblicks und die Wiederholung der Lebenszeit der Toten gaben dem Alltäglichen eine neue Tiefe. Aber entscheidend war, dass das Stück im großen und ganzen das totale Gegenstück war zu allem anderen, das er vorher kennengelernt hatte. Nichts Großartiges ging vor sich, sondern etwas völlig Normales. Normaler als diese Leute konnte man nicht sein. Die Sprache bestand aus Wörtern ohne Phantasie, ohne die extremen Bilder, die er in den Komödien von Shakespeare und Caldéron gelesen hatte. Es dämmerte ihm bald, dass der ehemalige Schüler – es war Jürg – Unsere kleine Stadt genau wegen dieses undramatischen Realismus ausgesucht hatte. Wenn Jürg in der Rolle des Spielleiters das Leben der kleinen Stadt kommentierte, dann war es so, als würde er sagen: »So ist es eben, auch heute, auch hier!« Jedenfalls begann er, den hohen Ton des Direktors und den hohen Ton, den andre an sich hatten, ziemlich nüchtern zu sehen. Das Stück war modern, und Jürg war modern. Die Wörter »modern« und »Moderne« wurden zu Kennworten, die den Ausschlag gaben.
    Der neue Realismus des Lebens, den er bei Hemingway entdeckte, passte vollkommen zusammen mit dem vor Gelächter platzenden Heideggerassistenten. Dieser hatte meist ein Hemd an, das wie ein amerikanisches Holzfällerhemd gemustert war. Er kam auch manchmal in ihr Zimmer oder saß mit ihnen im Garten und hielt ihnen regelrechte Predigten über das reale Leben, das man durch alle Bildung hindurch erst noch entdecken müsse. Allmählich nannte der Philosophieassistent für diese Lebenslehre auch zwei Namen: Der eine war der Name Heidegger, und der andere war der des französischen Philosophen und Schriftstellers Jean-Paul Sartre, von dem man überall sprach. Was er von Heidegger sagte, war eigentlich ganz einfach, so schien es ihm jedenfalls. Irgendwie ging es um die Dinge selbst, nicht so sehr um die Menschen. Das hörte sich gut an, aber es ging ihm nicht wirklich nahe. Völlig anders war das im Falle Sartres. Wieso

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