Granatsplitter
die wichtigste Eigenschaft. Dass der Direktor, ein bekannter Altphilologe, dieses Gedicht der ganzen Oberstufe vortrug, als im Sommer die Normandiefront in sich zusammenfiel, das erfuhren die jungen Sextaner erst später. Es war wohl so, dass der Junge anfällig für schöne Wörter war und dabei nicht merkte, dass man sie zu diesem Zeitpunkt auch anders verstehen konnte, als er sie verstand. Das Gedicht hatte er sich ausgeschnitten und eingesteckt, als der Vater ihn abgeholt hatte und nach der Aufführung des Agamemnon mit ihm in die Bombennächte der Heimatstadt zurückgefahren war. Das alles war gerade erst wenige Monate her.
Als die Bombennacht zu Ende gegangen war, wollte er auf die Straße. Und zwar in das Viertel, wo der Vater wohnte, um herauszufinden, wie dieser den Angriff überstanden hatte. Es roch nach verbranntem Papier und säuerlich nach Asche. Auf der Straße lagen zu Holzscheitkürze verbrannte Menschen, in den Bäumen hingen zerfetzte Körperteile, die der Druck dort hinauf geschleudert hatte. Es war nicht wie bei den funkelnden Granatsplittern, es war das Gegenteil davon, aber es hatte ebenso den Charakter von etwas ungeheurem Neuen, das mit einem Schlag alles verwandelte. Von der Gefahr und dem möglichen Ende des Lebens ging etwas ihn tief Aufwühlendes aus. Er empfand es aber nicht mehr einfach als Abenteuer, sondern als etwas Neues in der Zeit, in der er lebte. Und das war wohl keine gewöhnliche Zeit. Als er in die Straße der väterlichen Wohnung einbog – das gleiche Gewirr von Bombenkratern, zerfetzten Telefonleitungen, kaputten Straßenlampen und in sich zusammengestürzten Häusern –, sah er, dass das moderne Haus noch stand. Auch der Fahrstuhl funktionierte. Und als der Vater vor ihm stand, fühlte er die Sicherheit wieder zurückkommen.
Sein Vater war anders als die Väter seiner Kameraden in der Schule. Als dieser damals nach langer Trennung beim irischen Großvater erschienen war, um den Jungen mitzunehmen, da hatte er ja so fremdartig gewirkt. Alles an ihm war anders als bei den Männern, die er täglich sah und hörte, ohne dass er hätte sagen können, was genau es war. Natürlich die Kleidung, die sportliche Mütze, die schönen Hemden, die braune Jacke aus feinem Leder mit Reißverschluss. Auch die braunen Lederschuhe, der hellgelbliche Regenmantel über der Schulter. Der Vater war im ersten Jahr des Krieges krank geworden. Aus dem Militärdienst entlassen, hatte er fast zweieinhalb Jahre in einer Klinik in der Schweiz verbracht, zusammen mit Patienten aus verschiedenen Ländern, auch aus England und Amerika. Von ihnen und aus den ausländischen Zeitungen erfuhr der Vater noch mehr, als er ohnehin schon wusste, man konnte ihm nichts mehr vormachen. Das Eigenwillige an seinem Vater war nicht nur die Kleidung, sondern sein ganzes Benehmen. Der Vater wirkte ruhiger als die anderen. Er wusste immer, was er wollte. Jetzt arbeitete er wieder an der Universität, die nicht weit entfernt von dem Haus seiner Wohnung lag. Dieses Haus hatte nur einige Brandbomben abbekommen, die auf die Dachterrasse der obersten Wohnung gefallen waren, in der der Vater wohnte. Der Brand konnte aber schnell mit Sand aus den bereitstehenden Sandsäcken gelöscht werden.
Erleichtert, den Sohn in guter Stimmung und unverletzt wiederzusehen, erzählte ihm der Vater von seiner Arbeit: Der Krieg sei bald zu Ende, sagte er, und jetzt muss die Zeit danach vorbereitet werden. Es ging um Nationalökonomie, was in den Ohren des Jungen sehr international klang. In einer Denkschrift für die Alliierten wollte er vor der Auflösung der lebenswichtigen Industriezentren warnen. Irgendwie sprach der Vater so, als ob der Nachkrieg schon begonnen hätte. Jedenfalls schien es ihn zu drängen, denn er sprach nur noch von der Zeit danach. Immer wieder war davon die Rede. Auch dass man die Verbrecher alle hängen würde, nicht nur die Regierungsmitglieder, viele andere auch. Es würde eine neue Zeit anbrechen, und deshalb wäre das Wichtigste, nicht in letzter Minute noch verletzt zu werden oder zu sterben. Die Front im Westen bröckele endgültig, die Alliierten würden Ende des Jahres vor der Stadt stehen, die aus diesem Grund jetzt täglich bombardiert würde. Deshalb hatte der Vater seine Eltern gebeten, endgültig in ihrem kleinen Haus auf dem Lande zu bleiben und nicht mehr in die Stadt zurückzukommen. Und dorthin sollte der Junge jetzt auch gehen.
Aber bevor der Vater ihn zu den Großeltern brachte, blieb er noch
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