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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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der Leihbibliothek unten in der Stadt ein Abenteuerbuch ausgeliehen, dessen Szenen so furchtbar waren, dass sie sich in seine eigenen Beobachtungen und Gedanken mischten. Das Buch hieß Onnen Visser. Der Schmugglersohn von Norderney und handelte von den Erlebnissen eines in die französische Armee gepressten sechzehnjährigen Junge im napoleonischen Feldzug gegen Russland. Es waren nicht nur die extrem blutigen Schilderungen von den Kämpfen bei der Eroberung von Smolensk und den Plünderungen in Moskau, es war vor allem die ausführliche Darstellung entsetzlicher Grausamkeiten, die ihn fesselte. Die Art und Weise, wie der Held und sein Freund, ein russischer Zigeuner, an dem bösen französischen Oberst unbarmherzig Rache nahmen oder wie sie nur um ein Haar auf ihrem Wagen dem gefräßigen Wolfsrudel entkamen, immer erschien alles Gefährliche auch in ein riesiges, böses Chaos getaucht, das die ganze Welt wie eine Flamme umfasste. Er konnte gar nicht anders denken als: wie heute! Die eigenen Soldaten waren ja wie damals die französischen aus Russland zurückgedrängt worden, fast alle tot oder gefangen oder auf der Flucht.
    Natürlich hatten die Franzosen von vor hundertfünfzig Jahren und die Erlebnisse des jungen Fischersohns von der Nordseeküste eigentlich nichts zu tun mit seinen eigenen Tagen in dem kleinen Dorf im Westerwald. Aber trotzdem: Er vergaß den historischen Abstand beim Lesen, und die Erinnerung an die Brände und die Leichen in der Heimatstadt und die Erwartung der bevorstehenden Kämpfe verstärkten den Eindruck, dass abermals die Welt in ein Chaos versunken war. Was morgen kommen würde, wusste keiner. Nicht einmal die immer Bescheid wissenden Männer beim Abendessen.
    Er und einige Dorfjungen hörten eines Tages ein dumpfes Geräusch: In der Nähe war etwas passiert. Sie hatten den Aufprall gehört, ein Knirschen, wie wenn Metall auf Schnee stößt. Das war alles. Er und die anderen arbeiteten sich durch den gefrorenen Schnee vorwärts in die Richtung des Aufpralls. Im Hohlweg, wohl noch zweihundert Meter entfernt, erblickte er die Umrisse von etwas, das sich beim Näherkommen als menschliche Gestalt herausstellte. Es war ein Toter, der mit ausgebreiteten Armen dalag. Er hatte noch nie einen Toten in dieser scheinbar unverletzten Form gesehen. Als er vor ihm stand, sah er, dass es ein Negersoldat mit einer Pilotenhaube war. Das Gesicht hatte einen vollkommen friedlichen Ausdruck, aber die Augen waren weit geöffnet, was einen besonderen Effekt im dunklen Gesicht machte. Aber aus der an einer Seite zerrissenen Uniform quollen Teile der Eingeweide, und der Schnee war im Umkreis dunkelrot von Blut. Er hatte noch nie einen Neger gesehen. Irgendwie war die Tatsache, plötzlich einen Soldaten von schwarzer Hautfarbe zu erblicken, wichtiger, als dass er tot war. Er hatte des öfteren mitgekriegt, wie fremde Erwachsene empört davon sprachen, es sei eine Schande, dass die Amerikaner schwarze Truppen einsetzten, das zeige, was von ihrer Moral zu halten sei. Aber er selbst dachte, wenn er das Wort Neger hörte, an etwas ganz anderes, nämlich an eine Jugendausgabe von Onkel Toms Hütte : Tom, der Neger und Märtyrer. Das hatte sich so eingeprägt, dass er nichts gab auf die Redereien über die Negersoldaten. Es war aber nicht nur der Pilot, der da vor ihm lag. Das Wort »Amerikaner« war nun etwas ganz Konkretes geworden. Die Uniform des Toten, ein olivfarbener Trenchcoat, war allein schon der Ausdruck des exotisch Fremden.
    Ohne genau zu wissen, was in weiterer Entfernung vor ihnen lag, waren die Jungen sich doch ziemlich sicher, was sie in wenigen Minuten finden würden. Vor ihnen lag eine abgestürzte fliegende Festung. Sie war nicht explodiert, sie war in zwei Teile zerbrochen. In der Kanzel, wo das Plexiglas zertrümmert war, fanden sie die nächsten Toten, weitere Tote im Teil des vorderen Rumpfes. Die Jungen dachten sich nichts dabei, sich zwischen den toten Piloten auf die technischen Details zu konzentrieren. Sie hatten noch nie ein Flugzeug aus der Nähe, geschweige von innen gesehen. Und nun war es eines von jenen gewaltigen Viermotorigen, die sie in silberner Entfernung in der Höhe über sich erblickt hatten, das nun vor ihnen lag. Sie untersuchten aufmerksam die verschiedenen Uhren, das System der Steuerknüppel, wobei man einen der Toten fast berühren musste. Ob sie sich beim Aufprall das Genick gebrochen hatten, oder ob sie schon vorher tot gewesen waren? Was die Jungen fanden, war die

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