Granatsplitter
einige Tage bei der Mutter, die nach dem letzten Phosphorangriff die Nächte in einer Villa außerhalb der Stadt verbrachte, deren Besitzer wohl Anhänger des Regimes waren. Manchmal aßen sie mit dieser Familie zu Abend. Der Mann und die Frau waren immer ernst. Sie lächelten nie. Wenn die Mutter einen Witz über das tägliche Leben machte, schauten sie entrüstet oder so, als ob sie es nicht verstünden. Der Mann und die Frau sagten, sie seien deutschgläubig. Deshalb beteten sie auch anders. Sie reagierten auf der Mutter Bombenberichte mit einer Redeweise und einem Mienenspiel, als hätte sie etwas Unpassendes gesagt. Sie hatten vier blonde Töchter, alle mit dem gleichen Mittelscheitel und den gleichen Zöpfen. Irgendwie verstanden sie es zum Ausdruck zu bringen, dass es unpassend sei, dass der Junge keine Geschwister hatte und als Einzelgänger aufwuchs, was man an seinem Verhalten jetzt schon erkennen könne. Sie vermieteten ein Zimmer an Ausgebombte, weil sie für andere einstanden. Es waren Idealisten, die das Gute wollten. Das Internationale sei das Böse, wogegen man kämpfen müsse.
Er war froh, als er die Großeltern besuchen konnte, mitten zwischen Bächen, Dörfern und Wäldern, fünfzig Kilometer entfernt vom großen Strom. Er würde die Stadt im Kriege nicht mehr wiedersehen und auch keine Menschen mehr, die das Gute wollten. Der Großvater väterlicherseits war ein hochgewachsener Mann mit altmodisch geschnittenem grauen Kinnbart, der sich an allem Schönen erfreute. Besonders an der schönen Dichtung, die er zuhauf auswendig wusste und temperamentvoll memorierte. Besonders großartig den Mephisto aus Goethes Faust . Am meisten beeindruckt war der Junge, wenn der Großvater lateinische Sätze aufsagte. In ihrer Knappheit erkannte er eine Moral, nach der er sich sehnte, weil sie ihm als etwas Vornehmes erschien. Zwischen Lateinunterricht beim Großvater, Milchholen beim nächsten Bauern und langen Streifzügen durch die Wälder vergingen die ersten beiden Herbstmonate 1944. Dass die Zeit nicht stillstand, es noch immer die Welt der Bombenangriffe gab, war dann zu merken, wenn am Himmel die dröhnenden Formationen der amerikanischen Bomber mit langen Silberstreifen hinter sich in östliche Richtung flogen und wenn auf einmal in den umliegenden Äckern große Gräben ausgehoben wurden. Man nannte sie Panzersperren. Der Krieg im Westen näherte sich noch nicht den Grenzen, aber man bereitete sich darauf vor.
Bei seinen Wochenendbesuchen stellte der Vater abends den BBC-Sender an, was für sich selbst schon spannend genug war, weil man es draußen nicht hören durfte. Auf einem der Nachbarfelder drehte ein französischer Kriegsgefangener mit Pferd und Pflug seine Runden und erklärte dem Jungen, wenn er neben ihm einherging, warum der Krieg bald zu Ende sei. Die BBC-Nachrichten waren vor allem durch die mit Paukenschlägen verbundene Ankündigung »Hier ist London« aufregend, und auch der Tonfall des Sprechers hatte etwas an sich, was er im Rundfunk bisher nicht gehört hatte. Man erfuhr durch sie im Detail, wie die Front im Westen verlief und dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass sie in absehbarer Zeit sich nähern würde. Es war diese abendliche Stimme, die er zusammen mit Vater und Großvater hörte und die in ihm eine Zeit nach dieser Zeit noch mehr zum Bewusstsein brachte.
Die Gespräche mit dem französischen Kriegsgefangenen waren etwas Besonderes. Er sprach in einer seltsamen Art, Bruchstück für Bruchstück die Wörter mit einem heftigen Akzent aus sich herausholend, als ob er nur mit sich selbst redete. In der Wohnung des Vaters in der Stadt hatte der Junge ein Buch gefunden, das von Frankreich handelte, seinen uralten Gebräuchen, dem Leben auf dem Lande, wo es keine Fabriken, keine neuen Häuser gab, nicht einmal in den Städten. Die Leute waren so wie ihr altes Land, ohne neue Technik, aber stolz auf ihre Sitten, ihre Künstler, ihre Literatur und die besondere Art, wie sie aßen und tranken. Rotwein, Weißbrot, Geflügel war das Selbstverständliche, üppige Fleischgerichte und feine Soßen kamen dazu. Wie Gott in Frankreich, so der Titel, allerdings mit einem Fragezeichen versehen, denn der Verfasser des Buches kritisierte das schöne Leben, das er schilderte. Warum, verstand der Junge eigentlich nicht. Er wollte nur noch mehr vom schönen Leben lesen. Das war es, was ihm neben dem französischen Kriegsgefangenen einfiel, und auch, dass der Großvater mit dem feinen Bart ihm
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