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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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von Frankreich erzählt hatte, wo er in seiner Jugend vor dem ersten Krieg für einige Jahre gelebt hatte. Als er so neben dem Kriegsgefangenen herging, kam ihm die Ruhe, die von diesem ausging, ganz selbstverständlich vor.
    Der Ort, in dem die Großeltern jetzt lebten, hieß Glatteneichen. Als die Front noch näher kam, hatte der Vater dafür gesorgt, dass er und die Großeltern dort bei einem Bauern Zuflucht fanden. Es war ein Weiler noch weiter im Inneren des Westerwalds, und er bestand aus nur vier Häusern und war so aus der Welt, dass seine Bewohner, Kleinbauern mit zwei, drei Kühen und zuweilen einem Pferd, einem Handwerk nebenbei, den Namen des nächsten Ortes jenseits des Waldes aussprachen, als ob es sich um einen anderen Stern handele. Hier war alles viel tiefer, schwerer als zwischen den Hügeln und Bächen, woher man kam. Auch die Sprache war schwerer, rauher, wenn auch noch eine westdeutsch klingende, rheinische Mundart. Man hatte nicht die fixe Zunge der Kölner jenseits des Flusses und war sich dessen wohl auch bewusst und stolz darauf. Er, die Großeltern und ab und an der Vater und die Mutter und der alte irische Großvater und die gute andere Großmutter – sie alle hatten in einem dieser Bauernhäuser in drei Zimmern schließlich Unterkunft gefunden, inmitten einer vielköpfigen Familie. Abends beim gemeinsamen Essen an einem Holztisch, der so lang war wie ein Schiff, kamen weitere Unbekannte hinzu. Knechte, Handwerker, Handwerksburschen, die zusammen dort saßen, aßen und schwiegen. Nur die älteren Männer schwangen, wenn auch mit langsamer Zunge, das große Wort.
    Ihm kam das so vor, als läse er in einem seiner spannenden Abenteuerbücher oder in den Heldensagen. Die Männer sprachen darüber, was bald noch alles passieren werde. Sie schienen genau Bescheid zu wissen. Allerdings waren sie nicht immer derselben Ansicht. Ganz im Gegenteil! Aber dass etwas Ungeheures geschehen würde, das war allen klar, und der Gedanke des Ungeheuren drang ein in diese abgeschlossene stille Welt.
    Es war inzwischen Winter, ein sehr kalter Winter. Januar 1945. Der tiefe Schnee, der das Dorf nun noch mehr von der Welt abtrennte, verstärkte die Erwartung auf irgendetwas Ungeheures, das sich ereignen würde. Nicht unbedingt hier, inmitten der kleinen Gemeinde, aber so nahe, dass man es mit einer Spur von Erregung mitbekam: Die dröhnenden Verbände der Bomberkolonnen, die mit langen Kondensstreifen hinter sich in großer Höhe täglich nach Osten flogen, ohne dass sie von Abwehrjägern gehindert würden. Diese amerikanischen Flugzeuge wurden wegen ihrer vier Motoren und der schweren Bewaffnung »fliegende Festungen« genannt. Sie waren Boten einer neuen blitzenden, überwältigenden Technik, von der die Männer, die abends am Tisch das große Wort führten, auch sprachen, ohne große Kenntnis davon zu haben. Er saß im Winkel am Ende des Tisches im Halbdunkel und hörte gespannt den erregten Reden der älteren Männer zu. Er konnte ihnen so lange, wie er wollte, zuhören, weil er keine Zeit mehr an Schulaufgaben verlor, der Unterricht war eingestellt worden. Die Welterklärungen der Männer wurden für ihn noch spannender, wenn nachts der irische Großvater die Großmutter weckte und ihr auseinandersetzte, warum das ganze Gerede Unsinn sei und er der Widerwilligen, aber nicht Widersprechenden seine eigene endgültige Sicht darlegte. Seine Ansicht war, dass die Abwehr im Osten verstärkt würde, man dagegen die Westfront aufgebe und mit den Alliierten zusammen gegen die Russen vorginge. Der Junge konnte alles hören, weil er in der Nebenkammer unter dem Dach schlief, wo die Eiseskälte ihn häufig aus dem Schlaf holte. Er fand die Version des irischen Großvaters nicht überzeugend, aber er fühlte sich wohl mit ihr, weil sie etwas Überraschendes hatte. Alles war plötzlich anders geworden, alles war zu erwarten, woran man noch vor kurzem nicht einmal gedacht hatte. Eine riesige unbekannte neue Welt bewegte sich wie eine Schneewand auf das Dorf und seine Bewohner zu, dachte er, wenn er wach in seiner kalten Kammer lag. Das Weihnachtsfest, der schöne Baum in der Stube, die kleinen Geschenke, all das, was früher so aufregend gewesen war, war plötzlich nicht mehr so wichtig wie das, was ihm an neuer Erwartung durch den Kopf ging. Auch die Eltern und beide Großeltern waren nicht mehr so wichtig. Er hing seinen Vorstellungen nach, und die trennten ihn vom Alltag, auch wenn er daran teilnahm.
    Er hatte sich aus

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