Granatsplitter
Straßenverkehr großartig aus mit ihren Federhauben und Mokassins, unvergleichbar schöner als alle anderen Masken. Die Mutter hatte ihm trotz inständiger Bitte, auch ein Indianerkostüm zu bekommen, einen Holländeranzug gekauft, in dem er sich vor seinen Indianerfreunden schämte: blaue Hosen, gelbe Weste, goldene Knöpfe. Deshalb hatte er sich viele große Federn besorgt, die er in die Außenfalte der Holländermütze steckte. Außerdem hatte er die lächerlichen goldenen Glöckchen an seiner weißen Hose abgerissen und anstatt der Holländerpantinen sich auch Mokassins beschafft. Am Abend, als er in dieser Aufmachung sehr verschmutzt nach Hause zurückkehrte, war es zu einer Riesenbestrafung durch die Mutter gekommen. Von diesen Karnevalindianern, so hatte er von Tom erfahren, waren die richtigen Indianer doch ziemlich verschieden, obwohl einige Stämme sich auch prächtige Federn ins Haar steckten. Aber nicht diejenigen, mit denen die Amerikaner zuerst aneinandergeraten waren. Jetzt gäbe es nur noch wenige, friedliche Stämme in ihnen zugewiesenen Wohngebieten. Es liefen auch keine Mörder in der freien Prärie herum, wie er in einer unglaublich spannenden Jugenderzählung über einen amerikanischen Internatsjungen gelesen hatte, dessen Freund auf freiem Feld erstochen und beraubt aufgefunden wurde, sodass dieser Junge mit anderen Schülern auf die Suche nach dem Mörder ging und ihn auch entdeckte. Tom konnte mit seinem schleppenden Tonfall nicht nur gut erzählen, er hatte auch, anders als die Jungen auf der Straße, eine Art und Weise zu lachen oder zu gehen, die er sofort mochte.
Mit dem Absturz hatte sich die Zeit verändert. Von nun an sprachen die älteren Männer abends am Tisch darüber, wie man sich gegen die bald wohl heranrückende Front in Sicherheit bringen könne. Die Fachwerkhäuser boten keinen Schutz, und die Keller waren nicht groß und nicht stabil genug. Aber es gab in der Nähe einen alten Stollen aus der Zeit des Bergbaus, dessen Gänge mit Baumstämmen abgestützt und gesichert worden waren. Es sei die Zeit gekommen, dass die Frauen mit den Kindern dort am Tage Schutz suchten, sagten die Männer. Die Eisenbahnbrücke über den Rhein, einige Dutzend Kilometer entfernt, war unversehrt in die Hände der Amerikaner gefallen. Englische Jagdbomberketten, genannt Jabos, standen seit kurzem ständig in der Luft, und das nächste Dorf war bombardiert worden, weil dort Einheiten der eigenen Truppen ein Widerstandsnest aufbauten.
Er rechnete sich nicht zu den Frauen und Kindern. Ihm fiel die Aufgabe zu, manchmal die Kühe zu melken und die Milch in einem großen Eimer und andere Nahrungsmittel, die er im Rucksack trug, in den Stollen zu bringen, der etwa eine Viertelstunde entfernt lag. Dazu musste er eine größere Wiesenfläche überqueren, die sich dem Beschuss der feindlichen Jagdbomber öffnete, die eine nahe, strategisch wichtige Landstraße kontrollierten. Der ganze Transport nach Osten ging hier vorbei, militärischer und ziviler, völlig durcheinander. Die Jagdbomber machten sowieso keinen Unterschied und schossen auf alles, was sich bewegte, auf der Straße und den Feldern ringsum. Er hatte bald heraus, wie viel Zeit sie brauchten, um aus ihrem Sturzflug wieder an Höhe zu gewinnen. Dann stürzte er mit der Milchkanne los bis zur Mitte der schneestarren Wiese, hockte sich auf den Boden und hielt einen kleinen Tannenbaum über sich, den er als Tarnung für sich entdeckt hatte. Manchmal blieb der abermalige Herabsturz des Jägers aus, und er stand auf und konnte sogar in Ruhe den Waldrand erreichen, ohne dass Milch vergossen wurde. Manchmal aber kurvte der feindliche Jäger in Bögen über ihm und kam ihm so nahe, dass er glaubte, durch das Geäst des Tannenbaums das Gesicht des Piloten zu erkennen. Er betete dann »Heilige Maria«. Die Maschinengewehrsalven, die nicht ihm galten, sondern irgendwem auf der Landstraße, waren so laut, als wenn sie neben ihm einschlügen.
Dieser kleine Krieg, der ihn fast jeden Tag in Spannung und Schrecken versetzte, hatte im Ganzen doch auch eine angenehm belebende Wirkung auf ihn. Er fühlte sich als Teil bedeutender Ereignisse. Für seine Botengänge hatte er sich ausstaffiert. Er trug einen Stahlhelm und hatte Stiefel an, die ihm, der schon ziemlich groß gewachsen war, passten. Das erfüllte ihn aus einem besonderen Grund mit Genugtuung. Er erinnerte sich an die Jungen seiner Volksschule mit ihren Skimützen, wie Gebirgsjäger sie trugen, und ihren
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