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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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langen schwarzen Hosen mit der steilen Bügelfalte, die vorne so umgestülpt war, dass darunter die aufgerollten Strümpfe wie die Fortsetzung der schweren genagelten Schuhe wirkten. Die Art von Kluft, die der Vater verhindert hatte. Stattdessen die Baskenmütze und auch alles andere schrecklich Zivile. Die Knickerbocker, die ihm der Vater aus der Schweiz mitgebracht hatte, waren das Allerschlimmste gewesen. Nun, in Stahlhelm und Stiefeln, sah die Sache ganz anders aus. Besser noch als Skimütze und Nagelschuhe. Auch sein Milchtransport war etwas Höheres.
    Inzwischen war das Dorf Glatteneichen aus seiner Stille hinter den Wäldern herausgerissen worden. Es war ein Infanterieleutnant, der glaubte, hier den besten Platz gefunden zu haben, um sich und seine zehn Mann, größtenteils Oberschlesier, mit schwerem Maschinengewehr in Stellung zu bringen. Der Leutnant sah genauso aus wie der Leutnant auf einem Propagandaplakat, das er vor Monaten gesehen hatte mit der Aufschrift »Die Heimat hilft der Front«. Ein helmloser junger Offizier, die blutige Stirn mit Verband umwickelt, hält beide Hände einer jungen Frau entgegen, die ihm Waffen – Gewehre oder Patronengurte – mit hingabevollem Gesicht entgegenstreckt. So sah auch dieser Leutnant aus, von dem eine kalte Entschlossenheit ausging. Er trug das schwarzsilberne Eiserne Kreuz auf der Brust und war offensichtlich bereit, die Sicherheit des kleinen Weilers samt seiner Bewohner zu riskieren, um den zu erwartenden Amerikanern, Infanterie oder Panzer, ein letztes Gefecht zu liefern.
    Das war der richtige Mann für ihn. Irgendwie graute ihm vor der metallischen Atmosphäre des Leutnants und seiner Leute, andererseits zog sie ihn an. Die Stahlhelme, die Gewehre, die Lederkoppel, die Stiefel, die unfreundlichen Gesichter. Alles war plötzlich von einer schneidenden Härte. Vor allem aber war es die finstere Art des Leutnants, der genau wusste, dass er hier unerwünscht war. Als der Leutnant daranging, die Plazierung der Maschinengewehre anzuordnen, hatte der Junge ein Gefühl, das nichts mehr mit den alten Männern und ihren Reden zu tun hatte. Da wurde wortlos etwas vorbereitet, und er war alt genug, um zu wissen, dass es bald Tote geben würde, Tote geben sollte. Eines der Maschinengewehre wurde im Fenster des Schlafzimmers im ersten Stock des Hauses postiert, andere auf dem äußeren Rand des nahen Hohlwegs, von wo man kilometerweit über die Äcker bis zu den Wäldern in der Ferne schauen konnte.
    Der Leutnant hatte diesen Horizont von nun an ständig im Visier seines Feldstechers. Er sprach sogar nach einer Weile mit dem Jungen und erklärte ihm die Situation. Wenn Infanterie käme, dann würde man sie aufhalten, auch wenn sie Artillerie- und Luftunterstützung hätte. Wenn es Panzer wären, dann würde es ernst. Dann müsste sich zeigen, ob seine Leute mit der Panzerfaust wirklich umzugehen verstünden. Offenbar misstraute er ihrer Bereitschaft oder Fähigkeit, da sie erst spät in die Reste seiner Kompanie eingereiht worden waren. Als er den Leutnant fragte, ob er zum Waldrand gehen und die sich nähernden Truppen beobachten solle, nickte dieser. Aber dazu kam es nicht, denn inzwischen hatten sich einige Bewohner des Dorfes entschlossen, dem Leutnant sein Vorhaben auszureden. Er sah, wie ein selbstbewusster älterer Mann – er hatte zwar auch eine Kuh, war aber Zimmermann – auf den Leutnant zuging und auf ihn einredete. Nach anfänglicher Weigerung gab der Leutnant – im Gegensatz zu dem Leutnant auf dem Plakat – schließlich nach. Er zog mit seinen Leuten ab und verschwand mit Einfall der Dunkelheit in Richtung Osten. Der Junge wusste nicht, ob er sich auch freuen sollte oder nicht. Der Leutnant hatte ihm imponiert. Jetzt konnte man bloß noch warten. Man hängte aber keine weißen Bettücher aus den Fenstern, weil es in der Umgebung zu Strafaktionen von plötzlich auftauchenden SS-Kommandos gekommen war, die sämtliche Männer einer kleinen Gemeinde wegen eines weißen Tuches erschossen hatten. Auch für den Jungen war ein Höhepunkt dieser dramatischen Zeit zu Ende. Er behielt aber weiter Stahlhelm und Stiefel an. Er konnte sich davon ebenso wenig trennen wie seinerzeit von seinem Kommunionsanzug, der ihm Tage des Vergessens des Alltags beschert hatte.
    Als er an einem der nächsten Morgen, in Stiefeln und unterm Helm, am Dorfrand mit der Milchkanne unterwegs war, sah er plötzlich drei Soldaten in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern vor sich

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