Granatsplitter
auftauchen. Sie schrien etwas, was er nicht verstand. Die Amerikaner. Nachdem sie ihn abgeklopft und ihm den Helm abgenommen hatten, wiesen sie ihn an, vor ihnen in das Dorf zurückzugehen. Sie folgten mit schussbereitem Gewehr, ihre Helme mit einem gewissen Schwung schief auf dem Kopf, wie er es später in den Kriegsfilmen noch einmal sah, Khakimäntel und olivfarbene Gamaschen, ihre nervöse Aufmerksamkeit auf die ersten Häuser gerichtet. Er dachte jetzt wieder, dass die Amerikaner doch feige seien.
Als der Friede kam, es war Anfang Mai, brach auf dem Feldweg und den Wiesen dahinter der Ginster aus. Im Dorf schliefen die Menschen wieder anders als vorher. Das Geräusch der ostwärts fliegenden viermotorigen Bomber war so plötzlich verschwunden, dass man die Stille hörte. Es war eine seltsame Zwischenzeit. Sie begann, als Glatteneichen und die anderen Dörfer auf der Hochebene schon in amerikanischer Hand waren, während die nächste größere Stadt im Tal noch von eigenen Truppen gehalten wurde. Die deutschen Verteidiger im Tal gaben mit keinem Zeichen zu erkennen, dass sie auf verlorenem Posten kämpften. Er und die anderen Jungen, die nicht weit entfernt von den ins Tal feuernden Panzern der Amerikaner herumlungerten und mit den noch kämpfenden deutschen Soldaten sympathisierten, lebten schon in der neuen Friedenszeit, während die unten sich noch mitten im Krieg befanden. Aber auch diese Zwischenzeit war bald vorüber.
Allerdings brach in diese Stille des neuen Friedens ein Ereignis ein, das ihn die nächsten Jahre belastete. Er geriet mit der Mutter, die in den letzten Kriegstagen aus der zerbombten Heimatstadt auch in das kleine Dorf gekommen war, auf freiem Feld in einen Streit, der sich immer mehr in Rede und Widerrede steigerte. Am Ende schrie er sie an: »Ich hasse dich!«, drehte sich um und kehrte am Abend nicht mehr in das Bauernhaus, in dem sie wohnten, zurück, sondern schlief in einer entfernten Scheune. Der äußere Anlass war nichtig. Noch immer oder noch stärker empfand er die Art und Weise der Mutter nicht nur unmütterlich im Unterschied zu anderen Müttern, sondern ungerecht und unbeherrscht. Ganz das Gegenteil des Vaters, mit dem sie nun seit fünf Jahren nicht mehr zusammenlebte. Sogar bei Streitigkeiten, die sie in seiner Gegenwart mit Freundinnen gehabt hatte, wollte er nicht einfach ihre Partei ergreifen, sondern nur die derjenigen, die ihm recht zu haben schien. So war es auch diesmal gewesen. Aber es war noch etwas Tieferliegendes, das er immer weniger ertrug: Die Mutter verstand nicht, wie schon im Falle der Granatsplitter, seine über das Alltägliche hinausgehenden Träumereien und Gedankenflüge. Wenn er ihr eine Idee, die ihm kam, erklären wollte, schüttelte sie den Kopf. In ihrer Gegenwart fehlte ihm etwas Lebensnotwendiges, das er in der Gegenwart seines Vaters sofort spürte. Die Mutter hatte in den Wochen vor Kriegsende in der Stadt Typhus bekommen. Ihr waren alle Haare ausgefallen, und sie begannen erst jetzt wieder zu wachsen. Außerdem war sie während einer der letzten Luftangriffe vom Rauch im Keller fast erstickt und hatte sich mit extremer Anstrengung ins Freie gezogen und dabei die Hände in fließendem Phosphor verbrannt, obwohl sie vorher nasse Tücher um sie gewickelt hatte. Ihr war es zu verdanken, dass die anderen Menschen im Keller gerettet wurden. So war sie. Sie hatte ja auch im Internat alle in die Quälereien verwickelten Schüler namhaft gemacht, ohne den geringsten Respekt oder Angst vor den Familiennamen jener Schüler zu haben. Aber ihre Unbeherrschtheit und ihr unverständiges Verhalten gegenüber seinen Ideen und Träumereien hatten zu der Situation geführt, dass er ihr den schrecklichen Satz ins Gesicht sagte: »Ich hasse dich!«
Den Stahlhelm hatte man ihm abgenommen. Er behielt aber noch immer den kleinen Kasten bei sich, in dem er die schönsten Granatsplitter aufbewahrte. Was die älteren Männer nun erzählten, war von geringerem Interesse als früher. Dafür wussten die Dorfjungen von etwas ganz anderem, das an besonderen Tagen nachmittags in einer Scheune stattfand. Dort würde sich eine der Mägde mit einem Knecht treffen, sich ausziehen und vor den versammelten Kindern und Jugendlichen den Geschlechtsakt vorführen. Er solle das nächste Mal doch mitkommen und sich das ansehen. Er hatte vor einem Jahr bei der Mutter ein Buch über Naturvölker der Südsee gefunden und dabei Fotografien von nackten jungen Mädchen beim
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