Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
Fruchtbarkeitstanz entdeckt, die mit einem besonderen Lächeln ihr Geschlechtsteil darboten und mit ihren Fingern öffneten. Das hatte ihn mächtig aufgeregt.
    Er hatte immer wieder die Unterschrift gelesen: »Fruchtbarkeitstanz«. Die Mädchen warteten also darauf, dass ein junger Mann sie befruchtete. Er wusste ganz genau, wie das geschah. Sein eigener Schwanz versteifte sich, wenn er diese Fotografie sah. Die Mitteilung über die Vorkommnisse in der Scheune waren dagegen auf eine andere Weise drastisch. Man sah ja täglich, wie der Hahn hinter den Hühnern her war, das war halt so. Sehr viel dramatischer ging es her, wenn der Deckhengst eine Stute bestieg. Die Bauern machten keine besondere Anstrengung, die Kinder von solchem Schauspiel fernzuhalten. Irgend so etwas war also in der Scheune zu erwarten, und der Bauernjunge kündigte es an wie einen naturkundlichen Anschauungsunterricht. Er behielt in seinem Ohr vor allem das Wort Schmand. Schmand hieß das Fett der Buttermilch. Er folgte der Einladung in die Scheune nicht, auch wenn ihn die Neugier, das Beschriebene wirklich zu sehen, nicht in Ruhe ließ.
    Etwas Einschneidendes geschah zur gleichen Zeit im Beichtstuhl der Kirche der Provinzstadt. Den Priester interessierte das Wohlgefallen, das der Junge beim Anblick von Mädchen empfinden mochte. Das musste er beichten, denn es waren verbotene, unkeusche Gefühle. Als der Kaplan begann, nach körperlichen Einzelheiten zu fragen, die ihn anzögen, und diesem seine Antwort nicht genug war, er sähe gerne Busen und Beine, da geriet der Junge in Wut und verließ plötzlich so heftig den Beichtstuhl, dass die nahesitzenden Betenden aufschreckten. Er stieß die hölzerne Beichtstuhltür auf, als der Priester zum »absolvo te« ansetzte. Es war ihm im Hinausgehen sofort klar, dass er die Heiligkeit eines Sakraments verletzt hatte, und er verfiel darauf in den nächsten Wochen in eine Depression, aus der ihn nichts und niemand herausbringen konnte. Über Nacht war ihm der Glaube an Gott abhanden gekommen.
    Er war nun dreizehn Jahre alt, und er nahm die neuen Eindrücke seines Lebens aufmerksam wahr, ohne davon allzu beeindruckt zu sein. Der Verlust des lieben Gottes wurde nicht wettgemacht, aber alles, was das Leben schöner machte, war gerade recht. Dazu gehörte auch der erste Gang in die Oper, zu dem ihn der Großvater mit dem feingeschnittenen altmodischen Bart einlud. Das Opernhaus war teilweise zerstört und ausgebrannt, aber man hatte den noch erhaltenen Teil so hergerichtet, dass Aufführungen möglich waren. Und es war die eingängigste, die feurigste, die sehnendste Musik, die er bis dahin gehört hatte. Es ging um ein spanisches Thema über Liebe und Liebestod vor der Stierkampfarena, wie der Großvater ihm erklärte. Er war elektrisiert und empfand tief den Unterschied zu den schmelzenden Melodien, die er gerne im Mittagsprogramm des Rundfunks hörte. Die gingen Hand in Hand mit den Romanen des österreichischen Schriftstellers Ganghofer, die er vor allem wegen der edlen, aber auch sinnlichen Liebe zwischen Schloss und Bergwald verschlang. Die Liebesoper aber war etwas ganz anderes.
    Seit dem Zwischenfall im Beichtstuhl verfiel er häufig in einen Zustand der Träumerei. Zunächst war es der verschwundene Gott. Er hatte dafür keine logische Erklärung. Er dachte nun nicht etwa, dass es keinen Gott gäbe, weil sein Priester ihm unziemliche Fragen gestellt hatte. Aber der Kirchenraum, in dem das geschehen war und der bisher für ihn gleichzeitig so geheimnisvoll und anheimelnd gewirkt hatte, war verändert. Früher waren die vergoldeten Bilder von Jesus am Kreuze, von der Gottesmutter Maria und den Heiligen unter der Folter wie Zeichen von einem einzigen Wunder, in dem er eingehüllt lebte. Früher waren ihm der emporsteigende Weihrauch und das Klingen der Schellen in den Händen der Messdiener ein einziger, sein tägliches Leben überwölbender Zusammenhang. Das hatte sich seit jener Zeit, als sie im Hause des irischen Großvaters die Messe spielten und er den anderen Kindern Sonntagspredigten gehalten hatte, sogar noch verstärkt.
    Damals war die kleine Kirchengemeinde des westlichsten Teils der Stadt für ihn wie Jerusalem am Tage der Einkehr von Jesus auf einem Esel geworden, wovon er im Kindergottesdienst gehört hatte. Da bildeten sich nicht nur Phantasien, die während der Vorbereitung auf die Heilige Kommunion entstanden waren, sondern die aus den Blumenaltären der verschiedenen Familienhäuser aus

Weitere Kostenlose Bücher