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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Anlass des Fronleichnamsfests kamen. Die Blumen der rheinischen Gärten und die Blumen von Jerusalem wurden eins. Das wurde noch dadurch verstärkt, dass alle Straßen der kleinen Siedlung Namen von Bäumen oder Blumen hatten: Rotdornweg, Akazienweg, Weißer-Flieder-Weg, Am Rosengarten. Zwischen diesen Namen fühlte er sich wie in einem Naturparadies, denn die Namen bezeichneten ja die entsprechenden Bäume und Gärten, die alle Straßen und Wege säumten, sodass er im Frühjahr immer durch einen roten und weißen Schimmer hindurchging, woran auch der Krieg nichts änderte. Eine ganz eigene Wirkung hatte die dreitägige kirchliche Vorbereitung auf das Osterfest gehabt, besonders 1942, als er ins zehnte Lebensjahr gekommen war, die Heilige Kommunion hinter sich hatte und nun mehr denn je interessiert war an Jesu Lebens- und Leidensgeschichte: Der Gottesdienst am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag brachte beides zum Vorschein. Die nach der fortschreitenden Passion gewählten Farben der Gewänder des Pfarrers, das Grün, das Schwarzgold und das leuchtende Rot waren für ihn so anziehend geworden, weil mit ihnen alles Gewöhnliche der Welt verschwand. Es hatte ihn auch nicht gestört, dass er als Messdiener im violetten Rock unter weißem Gewand an diesen drei Tagen lange lateinische Sätze sprach, die er mühsam auswendig gelernt hatte, ohne den Sinn der einzelnen Worte zu kennen. Es war seine Welt.
    Der aufdringliche Kaplan im Beichtstuhl hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Das Innere der Kirche war mit einem Male für ihn nicht mehr das, was es so lange gewesen war. Wenn er sagte, er habe den Glauben verloren, dann gab dieser Satz nur unklar wieder, was er fühlte. Er hatte ja nicht einen bestimmten Glaubensinhalt gehabt oder einen klaren Glaubensbeweis. Es war vielmehr das Halbdunkel im Innern der Kirche, ohne Worte, das ihm so lange selbstverständlich gewesen war und jetzt nicht mehr. Zum gleichen Zeitpunkt wurde ihm das Thema wichtig, nach dem ihn der Kaplan so genau ausgefragt hatte. Schon als Messdiener war ihn ein besonderes Gefühl zwischen Stolz und seltsamer Empfindung überkommen, wenn er auf der Seite der Frauen und Mädchen die Geldkollekte zu machen hatte. Er stand dann in seinem rotweißen Messgewand jeweils neben einer der langen Sitzreihen und wartete auf die Rückkehr des Geldkörbchens. Manchmal kam ihm diejenige, neben der er für einige Augenblicke zu warten hatte, besonders anmutig vor. Dieses eigentümliche Gefühl war auch der Grund gewesen, warum er nicht zur Vorführung in der Scheune gegangen war. Nun aber, das hatte der Kaplan gespürt, hatte er beim Anblick der Mädchen etwas anderes im Kopf. Nicht genau das, was er in der Scheune hätte sehen können. Aber etwas Ähnliches. Auf jeden Fall ihren Körper. Er dachte ständig daran. In der Sexta im Internat war es nur eine kleine Anziehung gewesen, die die vor ihm Sitzende ausgeübt hatte. Jetzt aber, zwei Jahre später, war die Anziehung für sein Bewusstsein klarer, sodass die Kluft zwischen Berührenwollen und wirklich Berührenkönnen zu einem riesigen Hindernis anwuchs.
    Er hatte das zum ersten Mal im Jahr zuvor empfunden, als der Vater sich im Kurort im Schwarzwald mit einer sehr sympathischen, lebhaften und gebildeten Dame befreundete, deren Mann ein hoher Offizier in Belgien war und die eine Tochter in seinem Alter hatte, mit einem zarten Ausdruck und einer scheuen Art und Weise. Nach anfänglicher Zurückhaltung auf beiden Seiten kamen sie auf die Idee, Spiele zu erfinden, aus denen kleine Theaterszenen wurden. Und zwar spielten sie Märchen nach. Er mochte ganz besonders die Geschichte vom König Drosselbart und der schönen hochnäsigen Prinzessin, die aus Strafe für ihren Hochmut auf dem Markt Geschirr verkaufen musste, das der König Drosselbart dann mit seinem Pferd zu Scherben ritt, weil sie ihn verspottet und nicht erhört hatte. Irgendetwas an dem jungen König fesselte ihn, seit er das Märchen gelesen hatte. Einerseits war dieser ja äußerlich etwas entstellt, andererseits war er aber auch sehr anziehend. Einerseits benahm er sich grausam, andererseits lag in ihm eine große schöne Leidenschaft. Natürlich konnten sie die entscheidende Szene vom stürmischen Ritt ins Porzellan nicht richtig vorführen. Dafür aber umso besser die Entdeckungsszene, in der offenbar wurde, dass sowohl der arme Spielmann als auch der feurige Husar beide der König Drosselbart in Verkleidung gewesen waren. Sie erreichten

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