Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
es, die phantastische Geschichte temperamentvoll zu improvisieren. Sie legten vorher nur die wichtigsten Sätze und Worte fest und sprachen dann, was ihnen im Augenblick einfiel. Die seltsame Mischung des Charakters und des Aussehens des Königs Drosselbart war es, die ihm die Geschichte so unvergesslich gemacht hatte. Wahrscheinlich wollte er sich sich selbst so vorstellen. Dass sie keine Kostüme hatten, war gar nicht so schlecht, denn es zwang sie, mit kleinen Änderungen an ihrer Kleidung doch den notwendigen Eindruck für die Eltern zu erreichen. Er musste seiner Mitspielerin, sie hieß Caroline, in einer Szene die Hand geben, weil sie für das Ende einen kleinen Tanz erfunden hatten. Und dabei kam ein Gefühl tiefer Nähe zu ihr über ihn, das noch am nächsten Tag anhielt. Es war keine bloße Erinnerung, sondern etwas viel Dichteres, ihn Einhüllendes, das er versuchte festzuhalten.
    Während der Straßenbahnfahrt in das Stadtviertel, wo der irische Großvater wieder wohnte – das kleine Haus, in dem der Junge drei Jahre gelebt hatte, war tatsächlich nicht getroffen worden –, fand er erneut das Höhere. Beim Aussteigen vor einer halbzerstörten und ausgebrannten Häuserfassade erblickte er gegenüber ein Kino mit einem ihm sofort in die Augen fallenden farbigen Filmplakat. Es zeigte einen blaugepanzerten Reiter, dessen Helm mit einer scharfkantigen Krone versehen war. Der Panzer war halb bedeckt mit einem blauroten Überhang, auf dem drei rote Löwen und drei weiße Blumen abgebildet waren. Der Film hatte keinen richtigen Titel, sondern hieß nur wie der abgebildete Reiter: Heinrich. Statt zum Großvater zu gehen, entschied er sich dafür, sich diesen Film anzusehen. Es war sein zweiter Kinobesuch. Tatsächlich gab es keinen gewöhnlichen Ritterfilm zu sehen. Es begann damit, dass es ein Film in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln war. Außerdem sprach der Darsteller des englischen Königs die englische Sprache in so ungewöhnlicher, nie gehörter Weise, dass es ihn völlig in Beschlag nahm, auch wenn er nichts verstand, sondern nur über die Untertitel dem Sinn folgte. Er hatte seit einem Jahr ständig das Englisch der Soldaten auf der Straße im Ohr, abgesehen vom Englisch, das er jetzt in der Schule lernte. Die englische Sprache hatte über Nacht die Wichtigkeit des Lateins verdrängt. Er musste einen Schnellkurs belegen, um das nachzuholen, was er in der ersten Gymnasialklasse, wo es kein Englisch gab, versäumt hatte. Die Lehrerin erfreute sich guter Beziehungen zu den Besatzungsbehörden. Sie war eine bestens informierte Frau, die von heute auf morgen in der neuen Zeit lebte und die ihn aus seinen Grübeleien aufschreckte, indem sie ihm Fragen in Alltagsenglisch, die er schnell zu beantworten hatte, nur so um die Ohren klatschte, als wolle sie sagen: Englisch ist nützlicher als Latein.
    Aber damit hatte das Englisch, das dieser König Heinrich sprach, nichts zu tun. Es war eine andere Sprache. Die Redeweise der einfachen Reiter und Fußsoldaten im Film ähnelte dem etwas gepressten und nasalen Tonfall der englischen Soldaten auf der Straße. Die Rede des Königs klang dagegen überaus stolz, wohlklingend und herrisch. Sie war häufig auch sehr lang, sodass die Wörter übereinander stiegen, im Tempo zunahmen, bis sie auf einer äußersten Spitze angelangt waren und dort ausruhten oder jäh abbrachen. Es ging bei dem Film um einen Krieg zwischen Engländern und Franzosen im Mittelalter, bei dem die Engländer siegten. Das war aber nicht das, was ihn so beeindruckte, dass er es in den nächsten Jahren nicht mehr vergaß. Es war der Ton der englischen Sprache. Er konnte in der Filmankündigung lesen, dass ein berühmter Dichter sie erfunden hatte, dessen Namen er sich direkt nach dem Ende des Films auf ein Stück Papier schrieb: Shakespeare. Er fand diese Sprache so überaus schön, dass er die englischen Sieger – nicht nur die im Film, sondern die auf der Straße – plötzlich mit neuen Augen sah. Ihr Sieg erschien ihm nicht nur notwendig wegen der Gründe, die der Vater ihm erklärt hatte, er war auch gerechtfertigt, weil die Sprache der Sieger solch eines Ausdrucks fähig war. Mochten die Amerikaner feige sein oder nicht, die Engländer hatten diesen Dichter.
    Die Trümmer der Stadt reihten sich vor ihm aneinander, welchen Weg er auch einschlug. Er fuhr gerne aus der Provinzstadt hierher. Er dachte sich die Trümmer weg. Überhaupt brachte das Zerstörte ihn zum Träumen. Solange die

Weitere Kostenlose Bücher