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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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beschäftigt. Denn es war eigentlich doch nicht zu verstehen. Sie waren doch wie er. Es war unheimlich.
    Noch unheimlicher war ein anderer Unterschied geworden, den er etwa zur gleichen Zeit, also noch vor dem Krieg, aufgedeckt hatte. Als er mit seinem blauen Wipproller in einen entfernteren Stadtteil gefahren war und an der Wohnungstür der Frau schellte, die zweimal die Woche zum Putzen kam, hatte keiner aufgemacht. Es war in einem Hinterhaus, das ziemlich dunkel war. Plötzlich hatte er gemerkt, dass die Tür nur angelehnt war, sodass er eintreten konnte. Er erblickte eine Gestalt in der Küche. Es gab nur diese Küche und ein Nebenzimmer. Ein Geruch von altem, gekochtem Essen war ihm in die Nase gedrungen. Und noch ein anderer, scharfer Geruch. Jetzt erkannte er die Frau, die wöchentlich der Mutter half. Aber sie war es nicht, worauf er blicken musste, sondern auf das kleine halbnackte Kind, das sie so hielt, dass es in die Ritzen des Holzbodens der Küche sein Pipi machen konnte. Unheimlich war, dass das Kind überhaupt kein Schwänzchen hatte. Ein schrecklicher Anblick! Hatte man ihm das abgeschnitten? Er hatte genau hingeschaut und sogar die Wunde gesehen, die zurückgeblieben war. Als er zu Hause der Mutter seine Entdeckung erzählte, hatte diese ihm gesagt, dass das Kind ein Mädchen sei und kein Mädchen ein Schwänzchen hätte. Es wäre nicht abgeschnitten, Mädchen hätten es von Geburt an nicht. Das war ein Unterschied, der ihn noch mehr in Gedanken versetzt hatte als der Unterschied zwischen Evangelischen und Katholiken. Wie konnte so etwas geschehen? Dass die Putzfrau ihr Kind auf den Holzboden pinkeln ließ, war dagegen leicht zu verstehen.
    Bei seinen Streifzügen, meistens alleine, war er in Viertel gekommen, die er noch nie gesehen hatte, von denen er nicht einmal wusste, dass sie existierten. Es waren nicht die ländlichen Gegenden, wo er später mit den Zigeunerjungen kämpfte. Die Häuser waren viel größer, die Straßen voll von Autos und Straßenbahnen und die Trottoirs voller Menschen. Und es gab unendlich viele Schaufenster, gar nicht zu vergleichen mit der viel grüneren Wohngegend der Eltern, wo es nur gelegentlich ein Schaufenster gab. Hier hatte er häufig die roten Fahnen mit dem schwarzen Kreuz im weißen Kreis gesehen. Die Fahnen waren entweder an großen Gebäuden befestigt oder hingen manchmal auch aus privaten Wohnungsfenstern vorne heraus, manchmal hatte er sie auch an einer Straßenbahn gesehen. Damals wusste er noch nicht das, was der Vater ihm im letzten Jahr des Krieges erzählt hatte. Bei den Frühstücksbesuchen beim Bruder des Vaters hatte er aber so viel verstanden, dass er beim Anblick der Fahnen wusste, dass sie mit dem zu tun hatten, was der Vater und der Onkel und der Freund, der nach Paris gegangen war, nicht wollten. Das Rot, Weiß und Schwarz drückte ebenso wie die Zacken des Kreuzes etwas besonders Gefährliches aus. Es waren ganz andere Farben als die, die er in der Kirche sah und die er so schön fand. Aber mehr hatte er sich nicht dabei gedacht. Die Schaufenster zeigten viel interessantere Dinge. Von der Spielzeugeisenbahn, den vielen Schienen, die sich kreuzten und auch überbrückten, konnte er gar nicht genug kriegen! Und dass die Bahnen tatsächlich immer haarscharf aneinander vorbeifuhren.
    Ein völlig anderes Vergnügen waren die Spielsoldaten. Es gab grüne Soldaten, die einen Helm mit einer Spitze darauf hatten, und solche, die stattdessen einen langgezogenen Nackenschutz trugen. Einige standen in Gräben mit Stacheldrahtverhau davor. Entweder waren sie in liegender Stellung zu sehen und hatten die Hände an Maschinengewehren. Das Wort kannte er schon damals. Andere standen in der Bewegung, eine Handgranate zu werfen. Einige hatten Bajonette an ihren Gewehren, die sie gegen den Feind richteten. Andere hatten das Gewehr in bloßem Anschlag. Wieder andere richteten das Feuer ihrer Flammenwerfer in Richtung der Feinde. Die Feinde waren an ihren blauen Uniformen und blauen, länglichen Helmen oder an bräunlichen Uniformen mit flachen Rundhelmen zu erkennen. Die grünen Soldaten waren umgeben von Befehlsständen, Laufgräben und Geschützstellungen, an denen weitere Soldaten knieten oder standen, je nachdem, ob sie Granaten aus den Kisten holten oder durch die Richtungsgläser der Kanonen schauten. Die einfachen Soldaten waren von den Offizieren deutlich zu unterscheiden, vor allem durch die weißen oder silbernen Schulterklappen, manchmal auch durch das

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