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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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schwarzsilberne Kreuz, das sie an der rechten Brusttasche trugen. Es gab auch ganz hohe Offiziere, die General hießen. Einer von ihnen hatte auch einen Namen: Mackensen. Im Unterschied zu allen anderen trug er eine Bärenfellmütze, und die Aufschläge seines Mantels hatten eine rote Farbe. Diese Spielzeugarmee war etwas ganz anderes als die Zinnsoldaten, die ihm eine Großtante kurz vorher geschenkt hatte, oder die Ritterburgen mit ihren Zinnen und Zugbrücken. Sie gehörte wirklich zum Krieg, von dem der Vater und der Onkel gesprochen hatten. Auch früher hatte es schon richtige Kriege gegeben, Kriege wiederholten sich. Das hatte er gewusst, seitdem er in einem Album mit Zigarettenreklamen viele kleine Bilder aus sehr alten Zeiten gefunden und dabei vor allem Schlachtdarstellungen betrachtet hatte. Reiter hoch zu Ross mit gezogenem Säbel, aber auch Fußsoldaten mit Federhüten in langer Linie, alle in blauer Farbe mit roten Streifen. Der König hieß Friedrich.
    Insofern hatte er in den Spielsoldaten im Schaufenster Abbildungen von etwas erblickt, das ihm, seitdem die Erwachsenen das Wort Krieg benutzt hatten, wie eine neue Wirklichkeit vorkam, die seine Phantasie zu beschäftigen begann. Es gab unter den höheren Offizieren auch solche, die keine Uniform wie die anderen anhatten, sondern braune Hemden mit einem Lederriemen über der Brust und schwarze Hosen. Der höchste von ihnen hatte die Hand hochgehoben. Wenn er von diesen Ausflügen nach Hause zurückkam, hatte er ganz unterschiedliche Eindrücke gesammelt, die ihn tief beschäftigten. Sie sammelten sich zu inneren Bildern. Bilder, denen er manchmal lange nachhing und die ihm gegenwärtiger waren als das, was die Erwachsenen sagten. Wie riesengroß die Stadt sich außerhalb seiner eigenen Straße ausdehnte und wie verschieden das Äußere der Häuser und der Hausreihen war, das hatte auch zu den neuen Bildern gehört.
    Einmal passierte etwas, das er sich nachträglich gar nicht mehr erklären konnte. Er erinnerte sich deshalb genau an diesen Tag. Beim Betrachten der interessanten Schaufenster mit all den verschiedenen Spielsachen vergaß er seinen blauen Wipproller mit dem gelben Schild und einem Engel darauf. Erst nachdem er schon etwa fünf Minuten weitergegangen war, bemerkte er, dass er den Roller stehen gelassen hatte. Eigentlich war ihm dieser sehr wichtig, und deshalb war sein nun folgender Entschluss im nachhinein völlig unverständlich. Er hielt nämlich einen ihm entgegenkommenden, ziemlich ärmlich gekleideten gleichaltrigen Jungen an und sagte zu ihm: »Da vorne steht irgendwo ein blauer Wipproller vor dem Schaufenster, den kannst du dir nehmen. Ich will ihn nicht mehr.« War er zu faul gewesen, zurückzugehen? Er hatte keine Ahnung, ob der Junge den Roller gefunden und an sich genommen hatte. Jedenfalls kam er ohne Roller nach Hause zurück. Die Mutter merkte zunächst nichts, da der Roller immer im Keller untergebracht wurde, aber dem Vater fiel nach einer Woche auf, dass der Roller nicht mehr da war. Erst versuchte er zu lügen und behauptete, der Roller sei bei einem Freund. Allmählich aber kam heraus, was wirklich passiert war. Dass er den Roller nicht bloß verloren, sondern dass er ihn verschenkt hatte, unter ganz unglaublichen Umständen! Der Vater, der ihn niemals züchtigte, verabreichte ihm zum ersten Mal eine Tracht Prügel. Er war so außer sich über sein Benehmen, dass er tagelang nicht mit ihm sprach. Als er dann zu erforschen begann, was er sich dabei gedacht hätte, fiel ihm keine richtige Antwort ein. Der Vater war sehr besorgt. Und auch er selbst konnte es nicht mehr vergessen. Es blieb wie ein böser Traum in seiner Erinnerung.
    So langsam hatten der Vater und sein Bruder gemerkt, dass Freunde für immer weggingen, an deren Leben sie nun nicht mehr teilnehmen konnten. Der Zusammenhalt aber mit den Leuten, die sie täglich sahen, fehlte immer mehr. Sie hatten sich ausgeschlossen gefühlt von dem gewaltigen Aufbruch, der im Lande vor sich ging, von dem so viele Menschen irgendwie ergriffen sprachen. Sie konnten das nicht begreifen. Ihr Denken war ganz in der bürgerlichen Tradition verankert, nicht in den neuen Ideen. Zur Familie gehörte nicht nur, was diesem und jenem zustieß, etwa dem Bruder des Großvaters, der seinen Beruf verloren hatte. Dazu gehörten die gemeinsamen Feste, die Besuche, die man einander machte und bei denen man wiederum von vergangenen Besuchen und Festen sprach.
    Bei diesen Besuchen hatte sich der

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