Granatsplitter
gekommen war, hätte sich die Mutter immer auf dessen Seite gestellt. Es ging nicht nur um die Karriere, sondern um eine Art Wohlwollen gegenüber der Regierung. Dieser Freund hatte die strikte und immer drohender werdende Rede des Vaters absolut verkehrt gefunden. Wenn er so weiterrede, so der Freund, würde er sich und die Familie noch in Schwierigkeiten bringen. Diese Art der Kritik, hatte der Vater daraufhin gesagt, sei das, was ihn verrückt mache, dass immer mehr und überall und offensichtlich auch bei seinem Freund das, was die Regierung machte, selbstverständlich hingenommen werde! Solche Auseinandersetzungen hätten meist damit geendet, dass dieser Freund erregt weggegangen sei, während die Mutter dem Vater weiterhin zusetzte, wie er so unverantwortlich daherreden könne. Wenn sie dann allerdings eine Platte auflegte – das erinnerte der Junge noch –, kam es vor, dass der Vater trotz allem Streit aufstand und mit der Mutter tanzte. Der Junge hatte dann gemerkt, dass der Vater die Mutter noch immer mochte. Aber das hatte nichts an seinem Gefühl der Verlassenheit geändert.
Bei den Erinnerungen des Vaters fielen dem Jungen jene Abende wieder ein, wenn auch undeutlich. Das lag nun schon sechs, sieben Jahre zurück. Was davor gewesen war, als sie noch in Berlin lebten, daran hatte er überhaupt keine Erinnerung. Nur die, dass es eine schöne Wohnung gewesen war mit braunen Holzwänden und einem großen grünen Kachelofen. Es waren die Farben des Holzes und des Kachelofens, die er noch immer vor sich sehen konnte.
Er hatte sich endgültig an die Trennung der Eltern gewöhnt und wurde nicht mehr traurig, wenn der Vater durchblicken ließ, dass die Mutter ihm fremd geworden sei. Er hatte jetzt ja beide, den Vater wieder in der Heimatstadt, die Mutter im Rheinischen jenseits des Flusses. Die Geschichte des Vaters, die Geschichte über die Herkunft der Familie aus Frankreich, vor allem aber die Geschichte von dem Zusammenstoß mit dem Uniformierten prägte er sich von da an ein. Dazu kam auch die Gewissheit, dass der elegante Bruder des Vaters wohl nicht mehr aus dem Krieg zurückkommen würde. Die Großmutter konnte das nicht verwinden. Man sah es ihr an. Der Bruder des Vaters war in ein sogenanntes Strafregiment eingewiesen worden, nachdem er abgelehnt hatte, die Unterlagen über die jüdischen Angestellten der Firmen in Holland, denen er vorstand, sofort an die Behörden herauszugeben. Der Bruder hatte dort schon vor dem Krieg Geschäfte gemacht und fühlte sich besonders wohl in Amsterdam. Eines Tages, nachdem die deutsche Armee die Stadt schon über ein Jahr besetzt hatte, war die Polizei in seinem Büro erschienen und hatte die Übersicht über alle Namen der Mitarbeiter verlangt. Der Bruder wusste wohl sofort, was das bedeutete, und hatte versucht, es abzuwenden. Daraufhin wurde er festgenommen, und nach wenigen Tagen Haft kam er ohne jede militärische Ausbildung nach Russland, wo er bald fiel. Darüber hatten die Behörden den Vater jetzt informiert, der zuerst, um seine Mutter nicht aufzuregen, über den Hintergrund des Todes des Bruders nicht gesprochen hatte. Jetzt aber sprach er auch darüber. Nachdem er wusste, dass sein Bruder tot war, konnte er die Geschichte erzählen.
Mit dem Ende des Bruders hörte der Junge ein weiteres Kapitel von der Geschichte, die der Vater zur Politik der letzten Jahre erzählt hatte. Es berührte ihn nicht persönlich. Dafür war die Erinnerung an den Bruder des Vaters zu vage, er hatte ihn ja seit dem Vorkriegsjahr – das war jetzt sieben Jahre her – nicht mehr gesehen. Der Bruder des Vaters war der Lieblingssohn der Großmutter gewesen, weil er reich war und sie oft zu teuren Reisen eingeladen hatte. Außerdem war er ein praktischer Mann von Welt gewesen, während der Vater ein Akademiker war, der nicht viel Geld verdiente. Dass ihm der Vater das alles erzählt hatte, gab ihm aber das Gefühl ein, schon fast wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Davon abgesehen, verstand er nun noch besser, dass eine neue Zeit bevorstand.
Zu jenem Zeitpunkt war der Vater der wichtigste Mensch in seinem Leben. Er hatte ihm ja im vorletzten Kriegsjahr schon Dinge erzählt, die er im Hause des irischen Großvaters oder im Hause des feinen Großvaters nie gehört hatte. Wie entsetzlich diese Dinge waren, das ging ihm erst richtig auf, nachdem er jetzt, als der Krieg zu Ende war, durch des Vaters Erzählungen hörte, dass selbst die eigene Familie und einige ihrer Freunde davon
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