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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Junge oft gelangweilt. Das Langweiligste waren die Stunden der Wochenendausflüge in die schöne ländliche Umgebung rheinaufwärts gewesen, die der Vater und die Großeltern so liebten. Sie unterhielten sich dann über die Geschichte der Gegend zwischen Mosel und Nahe und über verschiedene Weinsorten. Er war erst glücklich, wenn es ihm gelungen war, den Kreis der Erwachsenen, die im Dorfgasthaus zusammensaßen, zu verlassen und sich für eine Stunde wegzuschleichen, um in einer der Scheunen nach verborgenen Hühnernestern zu suchen oder die immerfort fressenden Kühe zu beobachten. Das war etwas ganz anderes!
    Dabei passierte es einmal, dass er durch einen Heuboden in die darunterliegende Jauchegrube fiel, die so tief war, dass er immer mehr versackte, allmählich bis zum Kinn. Er hatte früh genug um Hilfe geschrien, und ein Knecht, der im Kuhstall beim Melken war, hörte das, kam gelaufen und zog ihn an einer Bohnenstange, die er ihm entgegenstreckte, heraus. Die Bauern wussten nicht, wer er war, und er musste sagen, wo die Eltern wären. Eigentlich hatte er das nicht sagen wollen, aber es half ja nichts. So trat er also jauchedurchtränkt in die Wirtsstube und verursachte eine riesige Aufregung. Bestraft wurde er nicht. Zu groß war der Schrecken der Erwachsenen gewesen. Man stellte sich vor, der Junge wäre in der Jauche untergegangen, und keiner hätte es bemerkt.
    Was am meisten zur Familie gehörte, war die Stadt selbst. Darüber hatten Vater und dessen Bruder immer wieder gesprochen. Sie wussten ganz genau, welche neuen Lokale aufgemacht wurden und welche Pläne zur Modernisierung der uralten Stadt vorgelegt wurden. Sie kannten jeden Platz und die noch so kleinste Straße in der Altstadt. Hier lag das Gymnasium, wo beide Brüder ihr Abitur gemacht hatten. Sie nannten die uralte romanische Kirche, von der das Gymnasium seinen Namen hatte. Die großen architektonischen Veränderungen der Stadt hatten schon eine Epoche davor stattgefunden, als man den mittelalterlichen Mauern entlang den großen Boulevard anlegte, der die Stadt im Kreis umschloss, von wo aus an den jeweiligen Stadttoren die Straßenbahnen in die neuen Viertel fuhren, auch in das Viertel des irischen Großvaters. Wie sehr liebten der Vater und sein Bruder diese Stadt!
    Es war in jener Zeit vor dem Krieg gewesen, dass dem Jungen die unbekümmerte Lebensweise der Mutter aufgefallen war. Sie trällerte ihre Lieblingsschlager und lud, wenn der Vater weg war, am Sonntag ihre beste Freundin ein, und die beiden Frauen verbrachten den Morgen im Bett mit Süßigkeiten und Cognac und den neuesten Platten. Er hatte manchmal auch zu ihnen ins Bett gedurft und zum Gelächter der beiden jungen Frauen den Busen der Freundin neugierig erblickt und angefasst. Sie hatten überhaupt eine merkwürdige Art gehabt, über Dinge zu sprechen, deren Sinn er nicht verstand. Das bedrückte ihn. Eine Stimmung der Verlassenheit hatte sich um ihn gelegt. Es war dieselbe wie die, wenn die Mutter abends ihre hochhackigen modischen Schuhe trug, dass es nur so knallte auf dem Wohnungsboden. Jetzt würde sie noch ausgehen. Das geschah immer, wenn der Vater nicht nach Hause kommen konnte.
    Es war wohl so gewesen, dass der Mutter des Vaters Reden über den Krieg und über die Regierung nicht deshalb gegen den Strich gegangen waren, weil sie dazu nichts hätte sagen können, sondern weil ihr dadurch die gute Laune verdorben wurde. Sie hätten nicht zueinander gepasst, sagte der Vater, weil die Zeit so war, dass Menschen, die nicht zueinander passten, dies sehr viel schneller merkten, als wenn die Zeit anders, normaler gewesen wäre. Es sei so, als ob etwas von außen eindringe, weil das Innere der beiden, das nicht zueinander gehörte, nichts Äußeres abwehren konnte. Der Vater erklärte ihm, dass die Unruhe von außen zu der Unruhe hinzukam, die schon in ihnen gewesen war. Für ihn, so behauptete der Vater, sei das schwerer gewesen als für die Mutter, denn er hatte nichts besessen, das ihn von den Gedanken, die ihn beschwerten, abgelenkt hätte. Die beiden besten Freunde waren schon eine ganze Weile nicht mehr da. Andere waren, obwohl sie eigentlich dagegen waren, der neuen Partei beigetreten. Das sei, hätten sie erklärt, aus Berufsgründen unvermeidlich gewesen.
    Besonders im Falle eines der Freunde aus den schönen Jahren wäre es eine Enttäuschung gewesen, die zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und ihm geführt hätte. Wenn dieser Freund zu Besuch

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