Granatsplitter
waren.
Wenn die Englischlehrerin ihm von der BBC erzählte und aus der englischen Geschichte, dann fand er seine Lieblingsvorstellungen von Mut und Stolz auch dort wieder. Es waren für ihn sozusagen andere, bessere Deutsche: In seinem englischen Lesebuch gab es eine Abbildung aus der frühesten englischen Geschichte, die er immer wieder betrachtete. Man sah vor dem Hintergrund des Meeres zwei Krieger mit fliegenden hellblonden Haaren, der eine im blauen Helm, der andere in einem blauen Mantel, wie sie, offenbar aus langen Schiffen kommend, die weißen Klippen erkletterten. Darunter stand die Erklärung der Szene: Es seien die ersten Sachsen, die als Eroberer die südenglische Küste erstiegen. Sie hatten die Namen Hengist und Horsa. In einer auf der nächsten Seite folgenden Geschichte wurde erzählt, wie diese Sachsen oder Angelsachsen als Gefangene in Rom den Papst zu dem Ausruf gebracht hatten: »So schön wie Engel!« Die Lehrerin erzählte ihm, dass die südenglische Grafschaft Kent seitdem das weiße springende Pferd als Wappen trage. Diese Geschichte verschaffte ihm eine zusätzliche Erleichterung. Er fand bei den Engländern nicht nur Eigenschaften, die ihm besonders wichtig waren, sondern er konnte sie sogar mit den Deutschen in Verbindung bringen. Die Entdeckung, dass alle einfachen englischen Wörter oder die englische Bezeichnung für Dinge und Handlungen des Alltags oder der Natur fast die gleichen waren wie die deutschen, war ermutigend. Und das springende weiße Pferd war auch das Zeichen des Landesteils, in dem er mit der Mutter zu dieser Zeit wohnte. Die Sachsen, die auf dem Bild des Englischbuches zu sehen waren, waren von hier gekommen. Vielleicht nicht direkt von hier, aber doch aus dem gleichen nördlichen Teil des Landes.
Allmählich entstand aus den Phantasien, in die er sich versenkte wie in eine dunkle Wolke, ein anderer Gedanke: Seine Heimatstadt gehörte nicht zum Land der Sachsen, ganz im Gegenteil. Er fand heraus, dass ihre ursprüngliche Bevölkerung mit dem Namen »Ubier« sich von den wilden Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins gerade dadurch unterschied, dass sie keine kühnen Eroberer, sondern fleißige Bauern und Händler waren. Es war dann sogar eine römische Stadt geworden. Das war eine unangenehme Entdeckung. Sie wurde durch ein Ereignis in seinem Schulalltag noch unangenehmer. Er gehörte als halblinker Stürmer zur Fußballmannschaft der Zwölf- bis Dreizehnjährigen. Wenn sie auf Lastwagen zu einem Spiel gegen eine benachbarte Schule fuhren, sangen die anderen Jungen immer wieder ein besonderes Lied. Es hatte am Ende, auch wenn sie Westfalen waren, den Refrain: »Wir sind die Niedersachsen / Sturmfest und erdverwachsen / Heil Herzog Widukinds Stamm!« Zuerst hatte er das Lied mitgesungen. Dann nicht mehr. Es war nicht nur das beschämende Bewusstsein, dass er wegen seiner Heimatstadt gar nicht dazugehörte. Es kam hinzu, dass er dieses Anderssein auch durch die Art zum Ausdruck brachte, wie er redete, und er redete anders als die übrige Mannschaft. Er sprach zwar mit Absicht nicht seinen Dialekt aus der Volksschule in der alten Stadt, aber er hatte doch den Singsang seiner rheinischen Heimat beibehalten. Deshalb wurde er manchmal von denen, die Herzog Widukind besangen, hochgenommen. Widukind gehörte, noch bevor er das Bildnis der angelsächsischen Krieger gesehen hatte, zu seinen Sagenhelden. Er wusste alles über ihn. Schon deshalb, weil sein eigener Namenspatron, Karl der Große, diesen besiegt und viele seiner Sachsen getötet hatte. Das daraus entstandene Problem für sein Selbstgefühl hatte er dadurch gelöst, dass er sich immer wiederholte, Widukind sei am Ende ein treuer Herzog seines Namenspatrons, des fränkischen Königs geworden. Im übrigen, die Franken, die Köln eroberten, waren mindestens so verwegene Krieger wie die Sachsen.
Zu diesen historischen Phantasien kam auch die Geschichte von der Herkunft der Familie aus Besançon. Kein Wunder, dass alle männlichen Mitglieder der Familie, und er selbst auch, ganz dunkles Haar hatten. Nein, sie hatten nichts mit den sächsischen oder angelsächsischen Helden gemeinsam. Von dem irischen Großvater ganz zu schweigen. Zu der Zeit des eiskalten Winters von 1945/46 waren die Eindrücke so stark, auch so zahlreich und so schnell vorübergehend, dass er abgelenkt wurde durch dieses und jenes. Und was ihn im Jahr 45 bewegte, änderte sich schon im Jahr 46. Er merkte, dass er älter geworden war.
Als er eines
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