Granatsplitter
sehen waren, wenn die englischen Bewacher sie durch die Stadt zu einem Gefangenenlager führten. Er erinnerte sich nicht, dass er vorher einmal englische Kriegsgefangene gesehen hätte. Immer nur Polen und Franzosen. Die englischen Soldaten kamen ihm sehr diszipliniert, ja gut getrimmt vor. Die Befehle, die aus dem brüllenden Mund des britischen Feldwebels hervordrangen, klangen hart, ja wild. Andererseits strahlten sie eine unmilitärische Freundlichkeit aus. Er beobachtete, wie sie ungezwungen mit dem Pfarrer oder den Einwohnern des Ortes sprachen.
Dass sie Engländer waren, hatte für ihn eine besondere Bedeutung, vor allem seitdem er den englischen Film mit dem König gesehen hatte. Aber da waren noch andere Verknüpfungen. Die Erinnerung an die Nordseeinsel mit Harry, dem englischen Jungen, und vor allem mit der englischen Fahne, die beide dann plötzlich verschwunden waren. Wichtiger aber war, dass sie die Sieger waren. Genau das machte ihm zu schaffen. Er konnte den deutschen Leutnant mit seiner Maschinengewehrtruppe in Glatteneichen nicht vergessen. Waren sie schlechter gewesen als die Engländer? Dass es vor allem englische Flugzeuge waren, die die Heimatstadt so in Grund und Boden bombardiert hatten, dass das Zentrum außer dem Dom nur noch aus Trümmergebirgen bestand, war ihm wohl bewusst. Aber er wusste auch, dass deutsche Flugzeuge zu Anfang des Krieges englische Städte bombardiert hatten, bevor ihnen die Kraft dafür ausging. Was immer auch der Vater über die Regierung, von der einige Mitglieder jetzt schon tot waren, gesagt hatte, er konnte nicht von der Vorstellung lassen, dass die eigenen Soldaten den anderen eigentlich an Tapferkeit überlegen gewesen wären. Und sie jetzt als Gefangene zu sehen, müde und ausdruckslos, hatte etwas, das seinen Stolz verletzte. An den Engländern bemerkte er eine ruhige Selbstsicherheit, mit der er erst allmählich zurande kam. Als ob sie immer schon Sieger gewesen wären. Ja, so etwas musste es sein. Es waren ja nicht nur Engländer, sondern auch Schotten und Nordiren und sogar Iren, wie er nach und nach mitbekam. Und nicht nur das: Auch Kanadier und Australier gab es unter ihnen. Die Vaterstadt war inzwischen an die Belgier als Besatzungstruppe übergeben worden, die sie unter englischem Oberbefehl verwalteten. Auch das war für ihn verletzend. Die Belgier! Kurz und gut: Diese Engländer waren ganz offensichtlich seit langem gewöhnt, anderen Völkern vorzuschreiben, was sie tun oder lassen sollten.
Das wurde ihm auch von einer neuen Bekannten der Mutter, von der er Privatunterricht in englischer Sprache erhielt, ausführlich erklärt. Sie arbeitete bei dem gerade neueingerichteten Rundfunk, der nach dem Vorbild des englischen Rundfunks aufgebaut wurde. Das Wort »BBC« hatte er noch aus dem Kriegsjahr in Erinnerung, als der Vater im Haus der Großeltern auf dem Lande immer die Nachrichten aus London abgehört hatte. Das Zeichen der BBC, dieses viermalige Klopfen und dann auf Deutsch der Satz »Hier ist London«, selbstbewusst ruhig ausgesprochen, das hatte sich tief in ihn eingeprägt. Die Engländer waren für ihn sozusagen die Ersatzsieger geworden, als die er die deutschen Soldaten noch vor kurzem gerne gesehen hätte. Er hatte die abenteuerlichen Kriegsheftchen gelesen mit Titeln wie Wir holen Erz aus Narvik oder Flucht aus Doncaster . Das waren Heldengeschichten, egal ob die Deutschen aus Norwegen Kriegsmaterial transportierten oder aus nordenglischen Gefangenenlagern flohen und es schafften, aufs Festland zu kommen. Heldisches war auch noch zu diesem Zeitpunkt seine schönste Vorstellung. Und wenn es die Deutschen nicht mehr sein konnten, dann eben die Engländer. Und dann kam der Tag in der kleinen Stadt, als das englische Regiment mit einer wunderbaren Militärmusik paradierte. Das schönste, weil so temperamentvolle Lied handelte von einem britischen Grenadier. Die englische Militärmusik war besonders schön wegen ihres plötzlich wechselnden Rhythmus und der wechselnden Tönung ihrer Melodie zwischen melancholisch und lustig. Sie hatte einen ungeheuren Schwung, und er konnte sich daran nicht satt hören, weil die Melodie einerseits stolz und herausfordernd klang, andererseits aber, vor allem wegen der Flöten, wie ein Tanz. Das war ein völlig anderer, hellerer Ton als die dunkle, mechanische Marschmelodie der deutschen Soldaten, die er bis dahin mit einer Art Andacht gehört hatte, wenn sie, immer seltener, im Krieg durch die Straßen gezogen
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