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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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betroffen gewesen waren. Die Geschichte der Schlägerei mit dem brutalen Uniformierten hatte sich ihm besonders eingeprägt. Der Mut, den der Vater bewiesen hatte, machte ihn stolz. Aber es war ja nicht bloß der Mut. Es war ja auch das Urteil des Vaters über das Regime. Nicht erst jetzt, nachdem alles vorbei war, sondern von Anfang an.
    Für den Jungen gab es noch viele Fragen, die er nicht alle sofort loswerden konnte. Es blieb verwirrend. Wie konnte es sein, dass es eine solche Regierung gegeben hatte und er gleichzeitig so glücklich als Messdiener am Hochaltar und in den Gärten am Rande der großen Stadt gelebt hatte, ohne davon irgendetwas zu wissen? Und jetzt war wieder alles anders. Es gab keine Granatsplitter mehr zu sammeln, keine Phantasieuniform mehr anzuziehen, keine verwundeten Leutnants mehr zu bewundern. In ihm sammelte sich eine große Erwartung auf Ereignisse, auf etwas Unbekanntes in der Zukunft. Und das setzte in ihm etwas Energisches, Lebensfrohes frei. Alles war nach wie vor ein Abenteuer.

DIE LITFASSSÄULE
    Während der unmittelbaren Zeit nach der Kapitulation hatten sie, die Mutter und er, noch keine Wohnung in der zerbombten Stadt und lebten nach Verlassen des Dorfes in einer westfälischen Ortschaft namens Kraghammer in der Nähe der Kreisstadt Attendorn: zwei Zimmer mit Balkon zum Wald hin, die der zukünftige neue Mann der Mutter ihnen besorgt hatte, während er selbst seine Arztpraxis in einem alten Gutshof unterhielt, in dessen Nähe die englische Kaserne lag. Zukünftige Patienten. Ein Provisorium, solange man in der Hauptstadt der Rheinprovinz nichts finden würde. Das allererste, das den Jungen eine neue Welt empfinden ließ, war das ganz weiße Weißbrot, das sie nebst salziger Butter, Ölsardinen, Tee und bitterer Orangenmarmelade von den Engländern bekamen, genauer gesagt: von einem englischen Offizier, der sich mit dem Arzt angefreundet hatte. Der Geschmack des weißen Brotes mit der salzigen Butter oder mit Ölsardinen, deren bedruckte Büchsen ihn fesselten, hatte eine diffus erhebende Wirkung auf ihn. Das Hineinbeißen in das weiche Weiße, das war ein neuartiger Vorstoß in etwas Unbekanntes. Dazu die Tasse Tee, in die ein wenig Milch geschüttet wurde, ohne Zucker. Es überstieg an Köstlichkeit alles, was er im Krieg an gutschmeckenden Mahlzeiten bekommen hatte. Das waren vor allem die Reibekuchen mit Quark gewesen, dazu schwarzer Kaffeeersatz ohne Koffein, Muckefuck. Die Reibekuchen hatte es sehr selten gegeben, weil es an Ersatzöl fehlte. Eigentlich nur an seinem Namenstag. Die Kinder hatten das »Sausen und Brausen« genannt. Einmal, es muss der 28. Januar 1942, der Tag der Seligsprechung Karls des Großen, seines Namenspatrons, gewesen sein, da wurde das Fest der Kinder durch die Nachrichten aus dem Radio unterbrochen: Englische Bomberverbände im Anflug auf Eindhoven. Eindhoven war die grenznahe holländische Stadt. Es war der immer gleiche, wiederholte Satz zu hören, bevor eine halbe Stunde später die Alarmsirenen aufheulten, die Bomber über der Stadt waren, die Flakbatterien laut wurden und die Explosionen der in der Entfernung einschlagenden Bomben die Erwachsenen zusammenzucken ließen. Er hatte seinen Teller mit Reibekuchen und Quark mit in den Keller nehmen dürfen, und es hatte ihm dort weiter gut geschmeckt.
    Ähnlich wie der Anblick des gelben Ginsters war die Existenz des weißen Brots ein Zeichen des Friedens geworden. Er konnte häufig die englischen Soldaten, die völlig anders sprachen als der ritterliche König im Film, aus der Nähe beobachten. Sie hatten, abgesehen von der Farbe der Uniform, keine Ähnlichkeit mit den Amerikanern. Auch ihre Uniformen waren anders, kleinteiliger geschnitten. Sie wirkten adrett. Die Hosen hatten Falten, die Soldaten hielten sich straff, wenn sie in Dreierreihen marschierten. Auf der Uniform trugen sie verschiedene farbige geometrische Zeichen oder Tierwappen, je nach Truppenteil und Rang. Sie hatten keine Stiefel, aber die genagelten Schuhe knallten dennoch auf dem Boden, darüber Stutzen. Die runden Käppis, eine Art Baskenmütze, die sie schräg oder auf den Hinterkopf geschoben trugen, waren etwas noch nie Gesehenes, ganz zu schweigen von den flachen Helmen. Diese Engländer waren etwas vollkommen Neues für ihn. Vor allem beschäftigte ihn der Unterschied zu der Uniform der deutschen Soldaten, die jetzt nur noch als Gefangene in ihren heruntergekommenen Hosen und Jacken und skimützenartigen Kopfbedeckungen zu

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