Granatsplitter
Tages aus dem gerade wieder beginnenden Gymnasium den Weg zur Bahnstation ging, blieb er vor einer Litfaßsäule stehen. Er starrte ein Plakat an, das er erst bei genauem Hinsehen überhaupt aufnahm und verstand. Etwas Furchtbares. Es war die Fotografie von nackten Körpern, auf die Knochen abgemagert, mit geschorenen Köpfen. Sie waren offenbar alle tot und bildeten ein einziges Über- und Nebeneinander, ein Haufen toter Männer und Frauen, deren Geschlechtsteile offen dalagen wie schmutzige Lumpen. Darunter stand in großen Buchstaben, um was es sich handelte: Es seien die toten Gefangenen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, wie sie die englischen Truppen gefunden hatten. Die ehemalige deutsche Regierung sei dafür verantwortlich, und man werde diejenigen, die diese Befehle ausgeführt hatten, finden und bestrafen. Er hatte im Internat das Wort »KZ« gehört. Er hatte aber nicht gewusst, was in einem Konzentrationslager genau vor sich ging und schon gar nicht, dass so viele Menschen dort getötet wurden. Hier nun, an diesem Mittag im Frühjahr 1946, sah er mit eigenen Augen, was ihm der holländische Schulkamerad vor anderthalb Jahren angedeutet hatte. Der Anblick der nackten Leichen, zu Haufen getürmt, war jetzt das neue Bild, das er sich von der Zeit vor dem Frieden machte. Er suchte nach Erklärungen, und er wartete zwei Tage lang, bis er die Mutter fragte, was das bedeutete, ob das wirklich wahr sei, was die Engländer öffentlich behaupteten. Die Mutter antwortete sogleich, ohne irgendeine längere Erklärung zu geben, dass das, was das Plakat zeigte, der Wahrheit entspreche. Sie fügte hinzu, es gebe in der Nachbarschaft Frauen, deren Männer nicht aus dem Krieg wiedergekommen waren. Die seien aber nicht tot, sondern säßen im Gefängnis und seien angeklagt, in solche Verbrechen verwickelt gewesen zu sein; er solle sich nicht täuschen lassen davon, dass diese Frauen unglückliche Gesichter hätten und von ihren armen Männern sprächen, die nur ihre Pflicht getan hätten. Da wäre kein Mitleid am Platze. Das war alles, was ihm die Mutter sagte.
Mehr war auch nicht notwendig. Bei einem Besuch in der Arztpraxis des Freundes der Mutter stieß er bald danach auf ein Buch mit dem Titel Der SS-Staat . Er merkte sich auch den Namen des Verfassers, Eugen Kogon, und vergaß ihn nicht mehr, weil das Buch das, was auf dem Plakat zu sehen war, in furchtbaren Einzelheiten schilderte. Vor allem eine Fotografie war so entsetzlich, dass er sie immer nur kurz betrachten konnte. Ein SS-Offizier in einem weißen Arztkittel saß auf dem Rand einer Badewanne, in der ein Mann in Uniform saß. Die Erklärung daneben lautete: Hier werde an einem russischen Kriegsgefangenen ausprobiert, wie lange ein ins Eiswasser oder in Wasser mit extrem niedriger Temperatur abgestürzter Pilot überlebe, bis das Herz aussetzt. In diesem Versuchsfall, so stand zu lesen, hatte das Herz bald ausgesetzt.
Er las das ganze Buch. Es gab ihm die Gewissheit, dass es sich nicht um einzelne Grausamkeiten einzelner Verbrecher handelte. Vielmehr war dieser ganze Staat ein verbrecherisches System gewesen. Wer und ob alle daran teilgenommen hatten, war ihm allerdings nicht klargeworden. Die weite Entfernung der eigenen Familie, des Vaters, des Großvaters, aber auch der Mutter und ihrer Eltern von all dem ließ ihn denken, dass es sich doch wohl um eine geringe Anzahl von Schuldigen handeln müsse. Einige Väter von Schulkameraden, die in der Partei gewesen waren, mussten den englischen Behörden Rede und Antwort stehen. Aber sie waren wohl an solchen Tötungen nicht beteiligt gewesen. Er ging abermals zur Mutter, um genauer herauszufinden, wie es sich wirklich verhalte. Er hatte den Zwischenfall zwischen ihnen beiden vom Frühjahr des Kriegsendes nicht vergessen und die Mutter auch nicht. Aber er hatte jetzt ein besseres Verhältnis zu ihr, und das hing mit ihrer Direktheit und Offenheit zusammen, die sich besonders in dieser Sache, von der sonst kein Mensch redete, zeigte. Als er sie fragte, ob man das, was in dem Buch über den SS-Staat zu lesen sei, gewusst hätte, da antwortete sie klipp und klar: Ja, viele hätten das gewusst oder halb gewusst. Eine Antwort, die von ihrem Arztfreund bald darauf verneint wurde. In einem erregten Gespräch, an dem auch ein gemeinsamer Freund teilnahm, ein etwas seltsam gekleideter, exzentrischer Anwalt aus der gemeinsamen Vaterstadt, fragte die Mutter beide Männer, ob sie vergessen hätten, wie aus dem der
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