Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
das Beste, wenn man die Mörder erschießen würde. Das wäre eine moralische Veränderung. Er konnte es nicht fassen, dass die meisten, die gemordet hatten, ungestraft davonkommen würden. Das musste man doch verhindern! Eigentlich war gar kein Prozess erforderlich. Alle Mörder gehörten erschossen. Nicht von den Engländern oder Amerikanern, sondern von denen, die nicht in das Regime verwickelt waren. Davon gab es doch Tausende, Hunderttausende, vielleicht Millionen. Wieso kam von denen kein Wunsch, das zu tun? Es war das erste, was er dem Vater beim nächsten Besuch auseinandersetzte, so gut er konnte. Aber der Vater schüttelte den Kopf. Nein, so ginge das nicht. Er verstünde, was er denke. Das hätte man, wenn es möglich gewesen wäre, sowieso viel früher tun müssen. Jetzt sei die Zeit für solche radikalen Maßnahmen verstrichen. Vor allem hätten diejenigen, die gegen das Regime gewesen waren, nie voneinander gewusst. Auch noch nach Kriegsende nicht. Man kannte ja wirklich nur die unmittelbare Umgebung, die Familie. Zu so etwas, was er wolle, gehöre eine Organisation, eine politische Organisation. Die gäbe es nicht, habe es nie gegeben. Die Gegner des Regimes seien, abgesehen von der Gruppe, die dann das Attentat versucht hatte, einander völlig unbekannt geblieben, ohne politischen Zusammenhang. Selbst die alten Angehörigen der früheren Parteien waren isoliert und schweigsam unter dem kontrollierenden System geblieben. Es gäbe inzwischen Parteien, die von früher her Erfahrung mitbrächten, die Sozialdemokraten und die christlichen Demokraten aus einer alten Partei namens Zentrum. Schließlich die Liberalen und die Kommunisten. Keiner von diesen Männern dächte daran, die Verbrecher des Regimes einfach umzubringen. Einzelne würden vor Gericht gestellt, aber nur wenige. Die Männer der alten Parteien versuchten, die Bevölkerung für eine neue, nichtdiktatorische, demokratische Ordnung zu gewinnen. Das gelänge nicht, wenn man weitere Schuldige vor Gericht stelle, geschweige sie einfach erschösse.
    Der Vater, der ihm während des Krieges anvertraut hatte, was abgrundtief Böses die Regierung sich ständig ausdachte, und ihn ja auch, so weit es ging, aus dem Jungvolk herausgehalten hatte, war nicht von Rachegedanken erfüllt. Er sagte sogar, es hätte auch anständige Männer in der Partei gegeben, die einen nicht angezeigt hätten, wenn man ihnen sagte, was man von dem Ganzen hielt. Zum Beispiel der alte Schuldirektor, der den Agamemnon aufgeführt hatte. Den habe er zur Rede gestellt, was er sich eigentlich denke bei seinen fanatischen Ansprachen an die Schülerschaft im Sommer 1944. Der habe stumm zugehört und auch am Ende nichts gesagt. Vor allem aber auch danach geschwiegen. Er hatte den Vater nicht angezeigt, nachdem sie beide nach Köln zurückgefahren waren. Der Vater kannte noch einen Klassenkameraden vom Gymnasium, dem er immer bei den Lateinaufgaben geholfen hatte. Der war dann ein hohes Tier in der Partei der Stadt geworden. Manchmal habe der den Vater, wenn sie sich zufällig in der Stadt sahen, gefragt, was denn die Leute so dächten. Wenn der dann hören musste, was der Vater dachte, so tuend, als sei das auch die allgemeine Meinung, da habe er nur erschreckt dagestanden, ohne jede Gegenwehr, geschweige eine Drohung.
    Die Idee mit der Erschießung aller ehemaligen Mörder oder Mitwisser war offenbar eine völlig unpraktische Idee. Ein Mann der Praxis, wie der Vater, wäre nie auf eine solche Idee gekommen. Der Junge aber hing weiter dem Gefühl nach, etwas Notwendiges würde geschehen, wenn man alle diese Leute erschießen würde. Erschießen sei ja nicht Aufhängen. Sie könnten noch von Glück reden, wenn das so geregelt würde. Er dachte auch darüber nach, warum ihm eigentlich der Punkt des Vaters, man könne nicht so gesetzlos vorgehen, auch nicht gegen diejenigen, die selbst so vorgegangen waren, bei ihm keinen Eindruck machte. Eigentlich war der Einwand des Vaters ja richtig. Aber irgendetwas daran stimmte trotzdem nicht. Was war es? Er konnte es nicht genau sagen, war aber fest überzeugt davon. Er dachte vor sich hin und kam darauf, dass alles Leben, so auch der Grund für das Todesurteil, aus einer höheren und aus einer niederen Gerechtigkeit bestehe. Die höhere Gerechtigkeit aus dem Gefühl, die niedrige aus der Vernunft. Man müsse etwas Gutes oder Gerechtes tun, nicht nur weil das Gesetz es vorschreibt, sondern weil das innere Gefühl dabei beteiligt sei. Das sei die

Weitere Kostenlose Bücher