Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
höhere Gerechtigkeit. Das genau dachte er.
    In der Schule war von all diesen Dingen nichts zu hören. Das störte ihn nicht. Er fühlte sich wohl dabei, Kausalsätze, Konditionalsätze, Finalsätze, Temporalsätze, alle Nebensätze, die es gibt, voneinander zu unterscheiden. Er tat das besonders gerne. Viele konnten das überhaupt nicht. Folge und Absicht unterscheiden. Das Gefühl von Ordnung und Übersicht gefiel ihm außerordentlich. Aber auch die Unterscheidung selbst zu treffen, gefiel ihm. Grammatik war eine geistige Konzentration ohne beschwerende Gedanken und dennoch interessant. Wie einfache Sätze sich veränderten, wenn Nebensätze dazu kamen. Wie lang oder wie kurz ein Satz sein konnte. Eine Beschreibung der Natur, die sie häufiger als Hausarbeit versuchen mussten, konnte aus sehr vielen kurzen Sätzen bestehen. Wenn Ameisen auf ihrem Ameisenhaufen durcheinander rannten und kleinste Bestandteile von Hölzern, Blumen und Unerkennbarem daherschleppten, war das ein unaufhörlicher, nie aufhörender Zusammenhang, aber man konnte es in ganz kurzen Sätzen beschreiben. Das war nicht möglich, wenn man etwas Nachdenkliches darstellen sollte. Da verfing man sich in längeren Sätzen und brauchte Nebensätze. Zum Beispiel, ob es richtig sei, von den Eisenbahnzügen so viele Briketts herunterzuholen wie möglich, weil man ohne sie zu Hause frieren würde. Das war, obwohl es offiziell verboten war und ein Diebstahl, ein Thema im Schulaufsatz. Aber der Kölner Erzbischof Frings hatte gesagt, das sei unter solchen Umständen erlaubt. Deshalb gaben die Bewohner der Vaterstadt dem Brikettstehlen von den stehenden Zügen den Namen des Erzbischofs, nämlich »fringsen«.
    Das war nur ein Beispiel für das Schreiben von längeren Sätzen, bei denen es auf die Umstände ankam. Der Erzbischof ließ ihn aber auch wieder an Gott denken. Seit dem Zwischenfall im Beichtstuhl war Gott für ihn auf eine rätselhafte Weise verschwunden. Er hatte ihn ja auch vorher nicht wirklich sehen können. Außerdem hatte nicht Gott, sondern der Priester ihn gefragt, ob er Mädchen gerne sähe und was an ihnen. Warum also plötzlich die Leere von Gott in ihm? Es war einfach so, dass Gott vorher in der Kirche, in der Messe für ihn spürbar geworden war. Das war immer so gewesen seit seiner Zeit bei dem irischen Großvater. Inzwischen hatte sich das geändert. Er wollte nicht mehr in die Kirche gehen. Der Beichtstuhl und der Priester, alle Priester, kamen ihm nicht mehr als Ort Gottes oder als Männer Gottes vor. Vorher war Gott der schönste Gedanke in der schönsten Welt, die ihn im Hause des Großvaters und auf der Straße dort und selbst im Luftschutzkeller umgab. Auch das hatte sich geändert, seit der Vater ihm, das war erst anderthalb Jahre her, gesagt hatte, wie die Welt außerhalb des Hauses des Großvaters eigentlich war. Und das Lesen des SS-Staats und die anderen Eindrücke lenkten seine Phantasie sowieso von Gott ab und brachten ganz andere Vorstellungen in ihm auf. Wenn jemand ihn gefragt hätte: Glaubst du an Gott?, dann hätte er wohl nicht mit Nein geantwortet. Er hätte aber gesagt, dass er überhaupt nicht an ihn denke und dass, wenn der Gedanke komme, er im Unterschied zu früher vollkommen ohne Inhalt sei. Ihn hatte früher, seit der ersten Kommunionsstunde, immer der erste Satz der Bibel tief beeindruckt: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Die Allmacht, das Wirken war es, wie er ihn sich vorstellte. Auch, dass Gott ihn sähe. Das war alles weg. Nichts mehr davon. Dafür nur noch weltliche Dinge. Der heimliche Blick auf Mädchen war einer der einnehmendsten. Er konnte neuerdings gar nicht oft genug einem Nachbarmädchen hinterherschauen. Deswegen hörte er auch die Operettenmelodien aus dem Radio so gerne oder die Schlager, die die Mutter schmalzig nannte, weshalb er, seitdem er diese Bezeichnung kannte, es nicht wagte zuzugeben, wie gerne er gerade die allerschmalzigsten hörte.
    Das Mädchen vor dem Haus gegenüber, dem er immer nachschaute, hatte eine hübsche schwarzgrünrote Strickjacke an, die zur Ausstattung der früheren weiblichen Staatsjugend gehörte. Er erinnerte sich genau an die Uniform der jungen Mädchen zwei Jahre zuvor: weiße Bluse, schwarzer Rock und braune Jacke mit Abzeichen vorne und am Ärmel. Diese Strickjacke aber mit dem gezackten grünroten Muster und den silbernen runden Knöpfen sah dagegen schon damals privat aus. Jetzt wirkte sie wie ein Farbfleck aus einer vergangenen Zeit, nicht

Weitere Kostenlose Bücher