Granatsplitter
pedantisch war und manchmal zu seinen Einfällen sagte: »Das ist unrealistisch«, eben das, was der Vater auch sagte. Wenn er mit dem Vater bei ihr und ihren Eltern zu Besuch war, verbarrikadierte er sich für Stunden in ihrem kleinen ehemaligen Studentenzimmer, mit Büchern vollgestopft, und kam nur notgedrungen zum Kaffee und zum Abendessen. Dort hatte er die Dramen Shakespeares entdeckt. Selbst in der deutschen Übersetzung waren sie noch schwer zu verstehen, aber das hinderte ihn nicht, sich lange mit ihnen zu beschäftigen. Der Vater pochte darauf, dass er bei den abendlichen Gesprächen dabei sein sollte, obwohl sie ihn langweilten. Nur wenn über Politik gesprochen wurde, hörte er zu. Meist ging es um Russland und Amerika, die Atombombe und die Währungsreform.
An solchen Abenden dachte er mit Freude, dass er bald in die Schule zurückkehren würde. Es kam ihm in den Ferien dieser beiden ersten Jahre noch stärker zu Bewusstsein, wie anders sein Leben dort war. Er bekam Angst, dieses Leben verlieren zu können. Dass es weit entfernt war vom Alltag seines Vaters, war das Bedrohliche daran. Der Krieg, der vor gerade erst vier Jahren zu Ende gegangen war und den man überall in der Stadt noch sehen konnte, hatte in der altgriechischen Schule keine wirkliche Spur hinterlassen. Jedenfalls merkte er nichts davon. Oder er wollte es nicht merken. Für ihn war der Eindruck der elysischen Felder zu mächtig geworden. So kam es ihm seltsam vor, wenn der Vater die Lehrer kritisierte. Man müsse realistisch sein, sagte er dann wieder. Einmal kam der Vater unverhofft ins Zimmer und fand ihn irgendwie abwesend wirkend in einem Sessel sitzend vor. Er sagte sehr laut: »Junge, wo bist du eigentlich?« Es gab danach einen regelrechten Streit. Irgendwie kamen sie darauf, über Platon zu sprechen. Nicht dass er zu diesem Zeitpunkt irgendeine größere Kenntnis von dem griechischen Philosophen gehabt hätte als vor einem Jahr, als er zum ersten Mal in der grünen Bibliothek von ihm gehört hatte. Sie begannen darüber zu streiten, ob Platon auch Platon bliebe, ohne dass jemand ihn läse. Er behauptete das. Der Vater fand es empörend, und abends hörte der Junge, wie dieser zu seiner Freundin sagte: »Wir müssen einmal über den Jungen reden. Er hat ganz beunruhigende Ideen.« Das zu hören bestärkte ihn darin, sich gegen alles zu wehren, das seine einsamen Ideen stören würde. Er wusste fortan, dass die Schule, seine altgriechischen Phantasien und die Stadt am Rhein nichts mehr miteinander zu tun hatten.
Es war zu dieser Zeit, dass er den Granatsplitter, den er wie einen Talisman in seinem Schrank im Internatszimmer aufbewahrte, nicht mehr in die Hand nahm. Auf den elysischen Feldern brauchte er ihn nicht mehr.
DER SICH ÖFFNENDE VORHANG
Mit dem Ende der Obertertia im Sommer 1949 änderte sich sein Leben mit einem Schlag. Es war das Schönste, was ihm passieren konnte. Der für das Theater zuständige Deutschlehrer der Oberklassen, dessen Inszenierungen berühmt waren, hielt ihn nämlich eines Tages an und fragte ihn, ob er bei der nächsten Aufführung mitmachen wolle. Ohne Ahnung, um welches Stück und welche Rolle es sich handelte, war er elektrisiert. Er hatte ja die Schule schon einmal durch die Augen eines Theaterzuschauers gesehen, und bei der Aufführung des Agamemnon war es nicht geblieben. Als Unter- und als Obertertianer sah er zwei Aufführungen ganz verschiedenen Charakters. Goethes Iphigenie auf Tauris und Georg Büchners Leonce und Lena . Beide Stücke wurden vor dem kleinen Tempel im geometrisch angelegten Blumengarten des Haupthauses aufgeführt. Cora, eine sanfte Oberprimanerin, spielte die Iphigenie. Ihre Verwandlung auf der Bühne hatte ihn sehr bewegt. Denn Cora war ihm schon, bevor sie in einem weißen Gewand als Iphigenie die schönen Sätze Goethes sprach, als eine zarte, geheimnisvolle Person aufgefallen. Leben und Rolle passten zusammen. Um was es bei Leonce und Lena ging, verstand er nicht genau. Weder hatte er das Stück gelesen, noch begriff er den tieferen Sinn der Worte, die gewechselt wurden. Er kannte auch den Dichter nicht. Bei Iphigenie wurde dagegen deutlich, dass Cora eine hohe Seele vorstellte, die über alle Schrecklichkeiten der Vergangenheit der Familie siegte. Als sie den Satz sprach: »Bin Iphigenie, Agamemnons Tochter«, überkam ihn ein vibrierendes Wiedererkennen. Er vergaß diesen Satz nicht mehr. Wie erhaben er klang, aber er wirkte auch unheimlich. Mit Leonce und Lena war
Weitere Kostenlose Bücher