Granatsplitter
es anders. Es kam ihm so vor, dass es ein Zeichen von besonderer Intelligenz war, über einzelne Sätze zu lachen. Das war einschüchternd. Er war, obwohl er diese witzigen Sätze nicht wirklich begriff, dennoch angezogen von dem Stück. Es verbreitete eine bestimmte traurige Stimmung, der man sich gerne überließ.
Er hatte manchmal bei den Proben zu Leonce und Lena im Garten zugesehen, wie der Deutschlehrer mit den Schülerschauspielern arbeitete. Sie lachten viel. Er warf dabei seine lange Haarsträhne, die ihm halb ins Gesicht und tief in den Nacken reichte, immer wieder zurück. Immer wieder. Seine Nase war gebogen und sehr groß. Und wenn er lachte, zeigte er seine großen Zähne. Normalerweise sah er ihn nur von weitem oder wenn er nach der Deutschstunde aus dem Klassenzimmer kam und mit den älteren Schülern noch in ein Gespräch über Literatur verwickelt war. Auch da lachte dieser Mann. Sieh, so viel gibt es zu lachen, dachte er, wenn man die Sache richtig versteht. Man muss eben verstehen. Das galt natürlich vor allem für Leonce und Lena . Der Deutschlehrer mit den langen Haaren war abgesehen vom Direktor, der sowohl ernst sein als auch wie ein Satyr lachen konnte, und dem interessanten Griechischlehrer, der zwar nicht viel lachte, aber doch witzige Sachen sagte, der auffälligste Erwachsene in der Schule. Dieser Mann brachte ihm zum ersten Mal eine Ahnung davon bei, dass Dichtung nicht nur aus einem Inhalt, nicht nur aus Ideen bestand, sondern aus besonderen Wörtern.
Und nun wurde er von diesem Mann gefragt, ob er Lust zum Theaterspielen habe. Und ob er Lust hatte, die allergrößte Lust sogar! Da der Deutschlehrer nicht zu den internen Internatslehrern gehörte, bestellte er ihn in seine Wohnung ins Dorf, wo er auch die anderen Mitspieler traf: Rüdiger, Feo und Wolfgang. Es ging um eine Komödie von Shakespeare, Wie es Euch gefällt . Er sollte den Orlando spielen, den jungen Landadligen, der sich in Rosalinde verliebt, die Tochter eines verbannten Herzogs, der auch in diesem Wald in den Ardennen sein Leben verbringt. Die Rolle von Rosalinde sollte Feo spielen, den verbannten Herzog Rüdiger. Die ganze Geschichte ging eigentlich nur darum, wie Orlando seine Leidenschaft für Rosalinde ausdrückt und wie Rosalinde ihre Gegenliebe verbirgt.
Zunächst war er von seiner Rolle überaus angetan. Bei der zweiten Leseprobe allerdings merkte er, dass die Rolle der Rosalinde die wichtigere war, und das nicht bloß deshalb, weil sie mehr zu sagen hatte. Aber nicht nur das. Es gab da vor allem noch den melancholischen Jacques, einen Bruder Orlandos, den Wolfgang spielen sollte. Dieser durfte von der vierten Szene des zweiten Aktes an viel wichtigere Reden halten als der verliebte Orlando, der keinen anderen Gedanken mehr im Kopf hat als Rosalinde. Deshalb bekam Wolfgang, einer der klügsten Schüler der Obersekunda, diese Rolle, dessen katzenartiger Kopf gut zu seiner selbstbewussten Redeweise passte, die auch im Alltag immer mit einer überraschenden Wendung endete. Es war zu klar, dass er das genau wusste. Davon abgesehen war Wolfgang als Schauspieler hervorragend.
Der Grund, warum dem Jungen die Rolle des Orlando dann doch so sehr zusagte, war die Genugtuung, dass Feo im Stück die heimliche Geliebte war. Bei den Proben, zuerst noch immer in der Wohnung des Deutschlehrers, begann das verliebte Reden für ihn doppeldeutig zu werden. Er las, um sich nicht zu verraten, mit gesenktem Kopf die Worte Orlandos, um nicht in die Richtung Feos sehen zu müssen. Zwei Jahre früher hatte er etwas Ähnliches erlebt. Damals lasen sie im Deutschunterricht mit verteilten Rollen Wilhelm Tell . Er musste die Rolle des hochmütigen, aber doch auch kühnen Grafensohns Rudens lesen, sodass er die Klassenkameradin, die die Rolle der Berta las und die ihm längst aufgefallen war, mit ähnlich werbenden Worten anzusprechen hatte. Was würde sie dabei denken?
Jetzt war es anders. Jetzt hatte er wochenlang mit Feo zu tun. Der temperamentvolle Regisseur unterbrach ihre Wechselreden, sodass die Proben anstrengend wurden und seine Gefühle ihn nicht mehr irritierten. Als sie allmählich ihre Rollen auswendig konnten und dazu übergingen, auf der Empore im großen Esssaal die Szenen richtig zu spielen, da war es ein Wunder, dass keiner merkte, wie die Rolle für ihn Wirklichkeit geworden war. Er stellte sich vor, dass Feo wirklich ihn meinte, wenn sie ihm als Rosalinde vor dem Zweikampf warnend zurief: »Junger Gentleman, Euer Geist
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