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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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aber keine Schwierigkeit damit, sich, wenn es brenzlig wurde, gegen alle sportliche Regel einfach günstig hinfallen zu lassen, was ziemliche Löcher in die Fahrbahn riss. Bei Schülerwettrennen hielt er sich deshalb beim hintersten Trupp, bei der sportlichen Nachhut auf, um die Avantgarde, die um die Trophäen kämpfte, nicht durch seine Löcher, genannt »Badewannen«, zu behindern. So bewegte er sich ohne jede ehrgeizige Absicht durch das Weiß des Waldes und der Hänge, und je später es wurde, umso stärker wurden die Eindrücke dieser nahen und doch fremden Welt. Die Landschaft, die Höhen und die sie umgebenden Wälder waren eine weitere Dimension des Schulgeheimnisses geworden. Am Tag bevor die Schüler in die kurzen Weihnachtsferien fuhren, hatten der erste Helfer und Schüler der Oberklasse im Wald eine besondere Tanne mit weißen Kerzen bestückt. Die ganze Schülerschaft von Sexta bis Oberprima machte sich gegen Abend auf den Weg, diese Tanne zu finden. Voraus gingen der Direktor mit seiner Frau, er ausnahmsweise mit einer Baskenmütze auf dem Kopf.
    Hatten sich alle bei der Tanne eingefunden, wurden Weihnachtslieder gesungen. Der Direktor zelebrierte diesen Gang durch den Wald regelrecht: sein charakteristischer breiter Kopf, den man vor sich sehen konnte, wirkte dabei wie eine Wegmarke. Der Gang hatte etwas von einer Zeremonie, nicht unähnlich einem anderen Gang der Schulgemeinschaft vor jedem Trimesterbeginn: dem Gang zum sogenannten Sonnenwendhügel, auf dem man der toten und gefallenen Schüler gedachte. Statt der Weihnachtslieder sangen sie dort das altprotestantische Kirchenlied »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen«.
    Er sprach mit Adrian über diese Rituale, und sie wurden sich einig, dass diese ihnen fremd blieben, gerade weil sie so feierlich wirkten. Vor dem Waldgang gab es eine Art Wettbewerb der einzelnen Internatszimmer untereinander, wer die phantasievollste Krippenlandschaft hätte. Damit waren alle Zimmer bis hin zur Oberprima sechs Wochen lang beschäftigt. Manche bauten eine Großkrippe mit wunderbar geformten Wachsfiguren von Maria, Joseph und den Hirten oder die Verkündigung des Engels im Scherenschnitt, andere eine morgenländische Stadt, aus der die Drei Könige aufbrachen unter dem Stern. Es war eine die Phantasie ansteckende, die Weihnachtsstimmung aufladende große Sache. Obwohl er die Besichtigung der Krippen schön fand, hatte er kein schlechtes Gewissen, dass er mit Adrian und Alex übereingekommen war, keine zu machen. Sie waren, so sagten sie sich, zu faul dazu, oder sie hatten dafür keinen richtigen Ehrgeiz. Oder auch: Es war ihnen peinlich. Gerade Alex machte freche Bemerkungen über die Krippenbastelei. Es hatte einen überraschenden Effekt für die Besucher, nach so viel Glanz plötzlich in ein Zimmer zu treten, in dem nur ein einfacher Adventskranz mit vier roten Kerzen angezündet war. Was sollte das? Ein bösartiger Akt von pubertären Anarchisten?
    Einige Weihnachtslieder hatten es ihm mächtig angetan. Besonders die schmelzende Melodie in Bachs Weihnachtsoratorium mit dem erotisch klingenden Refrain »Mein Liebster, mein Schönster« ergriffen ihn sehr, weil er sich vorstellte, von einem der Mädchen so angesprochen zu werden. Auch einige andere Weihnachtslieder hatten es in sich. Wenn er das Lied Maria durch ein Dornwald ging hörte und der Kerzenschein auf das Gesicht des einen oder anderen Mädchens fiel, ging es ihm durch und durch. Er musste an das alte Marienlied denken: »Meerstern ich dich grüße, o Maria hilf, Gottesmutter süße…« So hatten die weihnachtlichen Feiern doch einen erhebenden Effekt, nicht zuletzt durch das sogenannte Oberuferer Christgeburtsspiel, in dem Schüler das heilige Paar, die Hirten, den Engel, den Teufel und Herodes spielten. Dass dabei keine religiöse Stimmung mehr in ihm aufkam wie noch vor vier Jahren in seinem letzten Messdienerjahr, das kam ihm kaum mehr zu Bewusstsein.
    Wenn sie danach in die kurzen Ferien nach Hause fuhren, war das eine Fahrt in eine andere Welt. Die Eltern waren ja seit Kriegsanfang geschieden. Er verbrachte einige Tage bei der Mutter und ihrem neuen Mann, dem Arzt, die beide wieder in Köln lebten. Der Vater hatte eine Universitätsassistentin der volkswirtschaftlichen Fakultät kennengelernt, mit der ihn eine enge Freundschaft verband. Sie würden wohl heiraten. Sie war viel jünger als der Vater, nur elf Jahre älter als er selbst. Aber es gab auch Schwierigkeiten, weil sie sehr

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