Granatsplitter
ist zu kühn für Eure Jahre.« Und es war ihm mehr als schmeichelhaft zu hören, wenn sich die beiden jungen Herzogstöchter über ihn, Orlando, unterhielten und dabei Rosalindes Liebesinteresse heftig zur Sprache kam. Denn Rosalindes Frage an ihre Freundin lautete: »Weiß er, dass ich in diesem Wald in Männerkleidern herumlaufe? Sieht er so attraktiv aus, wie er aussah beim Zweikampf?« Die Freundin befand, er sei als Liebhaber durchaus tauglich. Aber was dachte Feo wirklich?
Bald glaubte er felsenfest: Feo musste ihn lieben. Immerhin hatte der Lehrer ihn ja für diese Rolle ausgesucht. Also musste er einige Ähnlichkeiten mit dem jungen Gentleman haben. Der war nicht bloß leidenschaftlich und furchtlos, er war auch schlagfertig. Er hatte – das sagte der melancholische Bruder Jacques ausdrücklich über ihn – einen schnellen Witz. Er ließ sich über die Unsicherheit des Anfangs nichts anmerken. Es kam ja auch zu keiner näheren Berührung, wie in den üblichen Liebeskomödien. Alles blieb in der Sprache. Hierbei lernte er die ernstere Seite des Deutschlehrers mit den langen Haaren kennen, wenn dieser sie bei seinen Unterbrechungen darauf aufmerksam machte, welch eine wortspielreiche Künstlichkeit die Rede- und Antwortsätze hatten und wie sie sie entsprechend betonen sollten. Dieser Regisseur, das sah man, liebte Dichtung und zeigte ihnen diese Liebe. Er sagte ihnen wiederholt, nicht zu vergessen, wie schwer es für die Zuschauer sei, dieses Spiel der Worte zu verstehen. Shakespeares Reden waren immer Argumente, auch wenn es keine Wechselreden, sondern Monologe waren. Das Leben, die unmittelbaren Gefühle steckten immer hinter Wörtern. Das machte ihnen der Regisseur klar. Das wurde besonders wichtig, wenn Rosalinde, für Orlando in ihrer Männerkleidung nicht erkennbar, diesen dazu überredete, so zu tun, als ob sie Rosalinde wäre und mit ihr die kirchliche Eheschließung zu spielen. Es musste ja für die Zuschauer mehr als ein bloßer Witz sein. Es musste ihnen zeigen, wie der Dichter aus Leben Wörter gemacht hatte. Der Lehrer sagte ihnen, sie müssten die Verse einerseits als reine Verse sprechen und dürften andererseits nicht vergessen, dass dahinter das pure Leben steckte.
Merkwürdigerweise hatte der Junge nicht das Gefühl, dass ihn die mangelnde Kenntnis der englischen Sprache störte. Sie lernten ja kein Englisch auf der in der französischen Zone gelegenen Schule. Abgesehen davon, dass Latein, Griechisch und Mathematik ohnehin die wichtigsten Fächer waren, gab es als neue Sprache nur Französisch. Aber er spürte durch die deutsche Übersetzung der Sätze hindurch, wie witzig sich das auf Englisch anhören musste. Der Lehrer mit den langen Haaren erklärte, »Witz« sei im Englischen nicht »wit«. »Wit« habe zu verschiedenen Zeiten einen etwas anderen Sinn gehabt. In der Zeit Shakespeares hätte es so etwas wie Geistesgegenwärtigkeit oder sogar philosophischen Geist bezeichnet. Der philosophische Jacques habe »wit« in diesem Sinne. Der Deutschlehrer erklärte ihnen auch den besonderen, philosophisch wirkenden Monolog von Jacques, der mit dem Satz beginnt: »Die ganze Welt ist eine Bühne«. Das sei einer der berühmtesten Monologe von Shakespeares Dramen, die überhaupt alle Wirklichkeit und Schein behandelten.
Diese Belehrungen über die Bedeutung der Worte und Sätze, die sie zu sprechen hatten, wirkten auf ihn, der durch Orlando hindurch versuchte, zu Feo-Rosalinde zu sprechen, auch etwas ernüchternd. Das Leben war eben doch nicht so direkt zu erleben, wie er es sich wünschte. Als aber der Tag der Aufführung sich näherte, fühlte er sich wie in andere Zeiten versetzt, die Zeit des Stücks und in die Zeit, die er sich einbildete. Für die Vorstellung wurden auf der Empore des Esssaals, die als Bühne sehr gut geeignet war, an jeder Seite jeweils zwei große Tische aufgestellt, die mit ihrer Oberfläche als eine Art Bühnenwand fungierten. An der über sie gelegten langen Eisenstange wurde ein Vorhang befestigt, der sich auf- und zuziehen ließ. Mit dem Vorhang erhöhte sich seine innere Spannung. Bei den letzten Proben und der Generalprobe vor dem großen Tag teilte der zugezogene und dann probeweise sich langsam öffnende Vorhang die ganze Welt für ihn in zwei Teile. Es gab einige Schüler und Erwachsene, die bei den Proben schon zuschauen durften. Er blickte durch die Ritzen des geschlossenen Vorhangs auf den unter ihm liegenden großen Saal. Es kam ihm die Erinnerung an
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