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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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alte Großvater mit seinem schwarzen Gesellenhut und der roten Feder im Esssaal der Schule auftauchte, war für sie, die noch immer sehr eitel war, beängstigend. Was würden die Klassenkameraden, was würde der freche Adrian sagen, wenn sie den Großvater sprechen hörten? Was sollte daran Schlimmes sein? Er hatte den Großvater sehr gerne und war stolz auf ihn. Aber es war sehr unwahrscheinlich, dass der Siebzigjährige die elfstündige Eisenbahnfahrt vom Rhein in den Schwarzwald wirklich auf sich nehmen würde.
    Als er ihm vom Theater im Internat erzählte, antwortete der Großvater: »Das hat doch alles hier bei uns angefangen!« Der Großvater konnte sich gut daran erinnern, wie er zu den anderen Kindern gepredigt hatte. Die Großmutter hatte das ja empörend gefunden, während der Großvater noch die Worte des Pfarrers im Ohr hatte, aus dem Jungen könnte ein Priester werden – wenn nicht mehr! Einmal wollte er mit dem Großvater ins Theater gehen, nachdem dieser sich strikt geweigert hatte, ein Kino betreten. Die Geschwindigkeit der Bilder war nichts für ihn, während die Großmutter nichts gegen einen Film mit Zarah Leander hatte. Im Theater wurde gerade Schillers Wilhelm Tell gespielt, und der Großvater versprach, mit seinem Enkel hinzugehen. Seit dem Kriegsende hatte sich bei den Großeltern einiges verändert. Der Schwiegersohn, der Mann der Tante mit der Hand auf dem Buch, war in Russland vermisst, sodass das kleine Haus keinen Hausherrn mehr hatte, keiner kümmerte sich richtig um den Garten. Es gab auch keine Kaninchen mehr. Und die wunderbaren Blumenaltäre zu Pfingsten, bei denen die kleine Treppe mit der Vormauer so nützlich gewesen war, wurden auch nicht mehr aufgebaut. Das Viertel am westlichen Rand der Stadt hatte von den Bomben nicht viel mitbekommen, die Dreikönigskirche und die ganze Gemeinde waren intakt geblieben. Aber die Zeit hatte auch hier alles verändert. Und die Tante? Sie verstand ihn nicht mehr. Sie wollte von seiner Schwärmerei für England und seinen König nichts wissen.
    Im Jahr nach der Aufführung von Wie es Euch gefällt gab es wieder eine Theateraufführung, die für ihn sogar noch wichtiger wurde als die allererste: Im Frühjahr war Nathan der Weise angesetzt. Diesmal führte nicht ihr Regisseur die Regie, sondern ein neuer Lehrer. Der mit den langen Haaren, das war ihm sofort klar, hätte das Stück von Lessing nicht aufführen wollen. Es wäre ihm, so dachte er, nicht künstlerisch genug gewesen. Insofern war die Tatsache, dass er keine Rolle in der Nathan -Aufführung bekommen hatte, keine allzu große Enttäuschung. Doch plötzlich änderte sich die Situation schlagartig. Rüdiger, der den Tempelherrn spielen sollte, musste am festgesetzten Tag der Aufführung an der Beisetzung seines Großvaters teilnehmen. Der Tag der Aufführung stand fest wie der Tag der Beisetzung, mit Rüdiger konnte nicht gerechnet werden. Nach der Mathematikstunde bat ihn die Klassenlehrerin, sich nach dem Mittagessen im Esssaal zur Nathan -Probe einzufinden. Diese Mitteilung schlug wie ein Blitz bei ihm ein. Das konnte nur bedeuten, dass er dort irgendwie gebraucht würde.
    Der neue Regisseur fragte ihn sehr freundlich, ob er die Rolle des Tempelherrn von Rüdiger übernehmen wolle. Da nur noch wenige Tage bis zur Aufführung verblieben, solle er nur die eine oder andere Stelle auswendig lernen, alles andere aber aus dem Reclamheftchen ablesen. Aber eben nicht nur ablesen. Er müsste den Charakter des Tempelherrn schon richtig spielen. Neben diesem liebenswürdigen Deutschlehrer stand eine neue Lehrerin, die seit kurzem auch Erzieherin bei den kleinen Jungen war und die er noch nicht richtig kannte. Sie war eine auffallend anziehende, nicht eigentlich elegante, aber vornehm aussehende Frau, freundlich und außergewöhnlich sicher in der Art und Weise, wie sie ihn ansprach. Es war die Witwe eines der Verschwörer, die in jenem Sommer 1944 nach dem Attentat auf Hitler hingerichtet worden waren. Das hatte sich in der Schule herumgesprochen. Aber davon merkte man ihr nichts an. Der strahlende Ausdruck ihres Gesichts, umrahmt mit rötlichem Haar, hatte gleichzeitig etwas Kühles, betont Beherrschtes. Der neue Regisseur sprach sie immer mit »Gräfin« an, der Direktor sagte häufig »Charlotte« zu ihr. Sie war es auch, die ihn für die Rolle des Tempelherrn vorgeschlagen hatte. Sie sagte lachend, dass es ja nicht nur blonde, sondern auch dunkelhaarige Kreuzritter gegeben habe.
    Er zögerte

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