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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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von den Lehrern und von den Eltern, die zu diesem Trimesterabschluss angereist waren, die Schüler dagegen hatten das Stück zum Teil langweilig gefunden. Es passierte ja nichts Richtiges. Dass Orlando einen Zweikampf bestand, war alles. Der Kampf mit dem Löwen wurde nur erzählt. Ansonsten hängte Orlando Verse für Rosalinde an die Bäume, so sah es Adrian. Kein Wort der Aufmunterung, nichts. Er war froh, dass seine Eltern nicht gekommen waren.
    Dass mit der Aufführung alles vorbei war, kam für ihn wie ein Schock. Er hätte das Stück am liebsten jeden Tag gespielt. Er wollte eigentlich in ihm leben. Es war doch nicht bloß eine Handlung, es war die poetische Sprache! Es ging ihm fast so wie vor sieben Jahren bei der Erstkommunion. Während die Erwachsenen sich bald danach wieder dem Alltag widmeten, hatte er weiter in der wunderbaren Atmosphäre der heiligen Wandlung und des Hostienempfangs verbleiben wollen. Jetzt hatte er drei Stunden in der Sprache des Stücks gelebt und wollte nicht mehr in die Wirklichkeit zurück. Adrian brachte ihn in seiner trockenen Art auf den Boden der Tatsachen zurück, indem er ihm erklärte, warum er sich nichts aus der Aufführung gemacht habe. Sie sei eine pädagogische Veranstaltung, eine Erfindung der Schule, um guten Eindruck bei den Eltern zu schinden. Damit war alles gesagt.
    Für ihn jedenfalls bedeutete die Aufführung von Wie es Euch gefällt einen Bruch in seiner Internatszeit. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Er las jetzt auch die anderen Komödien von Shakespeare, von denen ihm Was Ihr wollt am besten gefiel. In seiner zweisprachigen Ausgabe entdeckte er ein Lied, das den gleichen Refrain enthielt, der ihm während ihrer Aufführung so sehr gefallen hatte: »with hey, ho, the wind and the rain«. Warum gefiel ihm das eigentlich so sehr? Es enthielt etwas von dem Bild, das er sich von England und den Engländern gemacht hatte: immer im Bund mit der See und den Winden. Etwas Kühnes, Unbekümmertes ging von diesem Refrain aus, das ihn zutiefst befriedigte und das er innerlich nachahmen wollte.
    Unter den Tragödien war es der Hamlet , der ihn am tiefsten berührte. Seine Mutter hatte ihm zu Weihnachten eine Einzelausgabe geschenkt, ein schwarzer Umschlag mit einer goldenen Schrift: »Hamlet«. Er las während der beiden Weihnachtstage das ganze Stück und, wenn es möglich war, einzelne Monologe laut, in der Hoffnung, dass er damit seinen Regisseur von Wie es Euch gefällt überzeugen könnte. Im britischen Kulturzentrum der Stadt hatte er inzwischen den Hamlet -Film gesehen, in dem der gleiche englische Schauspieler, Laurence Olivier, der ihn vor Jahren als König Heinrich V. so tief beeindruckt hatte, den Dänenprinzen spielt. Auch die Regie war von Olivier. Fasziniert hatte ihn die lange Fechtszene am Ende, sie wirkte wie ein letzter Dialog zwischen den Hauptpersonen. Als Orlando hatte er schon einmal Gelegenheit gehabt, den Degen zu ziehen, musste ihn aber sofort zurückstecken. Der Degen – auf solche Einzelheiten hatte der Regisseur ihn hingewiesen – war jedoch ein wichtiger Bestandteil seines Kostüms, denn er war ein Zeichen seiner vornehmen Herkunft. Er legte das Buch auf den kleinen Tisch in seinem Zimmer in der Wohnung der Mutter, um es ab und zu sehen zu können. Hamlet . Dies brachte die Mutter, die, wie er längst gemerkt hatte, viel Sinn für komische Situationen hatte, dazu, einen ihrer Witze zu machen: »Hand aufs Buch«, rief sie. Das bezog sich auf eine Fotografie, auf der die Schwester der Mutter mit ihrem Mann in Offiziersuniform und ihren beiden Kindern neben einem kleinen Tisch sitzend zu sehen waren, auf dem sich eine Kerze und ein Buch befanden. Die Tante, die nach Ansicht der Mutter nicht die Schlaueste war, hatte eine Hand auf das Buch gelegt. Der Fotograf war wohl der Meinung gewesen, das sähe gut aus. Jedenfalls sagten sie beide, wenn sich jemand aufplusterte: »Hand aufs Buch«.
    Seitdem die Mutter wieder in Köln lebte und er im Internat, hatte sich ihr Verhältnis verbessert. Sie war an allem interessiert, was er dachte und machte, und er wiederum erzählte ihr gerne vieles aus der Schule. Während der Ferien fuhr er auch immer mit der Straßenbahn zu den irischen Großeltern. Der alte Großvater konnte nicht genug von seinen Erzählungen hören. Eines Tages erklärte er, er käme ihn dort besuchen. Als er das der Mutter erzählte, geriet diese in helle Aufregung: Um Gottes willen, er wird dich blamieren! Die Vorstellung, dass der

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