Granatsplitter
eine umgekehrte Wirkung des Vorhangs, als er zum ersten Mal mit seinem feinen Großvater in der Oper und dann im Theater gewesen war. Der schwere geschlossene Vorhang in tiefroter Farbe hatte eine Anziehung auf ihn ausgeübt, für die er kaum die richtigen Worte fand. Das verstärkte sich, als der Vorhang sich langsam öffnete und die erste Szene freigab: Er hatte eine Erregung bei dem Gedanken empfunden, dass das Theater einen in eine spannende Lebensszene hineinzog und man gleichzeitig doch wusste, dass es ein künstliches Bild auf der Bühne war. Dieses doppelte Gefühl hatte er sich nicht erklären können. Es war einfach da. Je stärker er die Künstlichkeit wahrnahm, umso stärker war aber auch der Eindruck von einem richtigen Leben. Das Leben hinter dem Vorhang war ein anderes Leben. Die Farben waren stärker, jeder Eindruck war stärker, aber es war richtiges Leben, sogar noch nachwirkender als das alltägliche. Wichtig war dieses Hin und Her des Eindrucks. Daraus entstand wieder das sich bei ihm häufig einstellende Gefühl von etwas ganz Wichtigem, Besonderem und auch Geheimnisvollem. Ja, der geschlossene Vorhang verbarg etwas Geheimnisvolles. Und der geöffnete Vorhang machte das Geheimnis sichtbar, ohne es zu zerstören. Bisher hatte er auf der Schule nur Aufführungen gesehen, die im Freien, ohne Vorhang aufgeführt worden waren. Man hätte auch Shakespeares Komödie draußen im Garten vor dem kleinen Tempel spielen können. Dann hätte der Wechsel zwischen dem Palast des bösen Herzogs und dem Wald des Verbannten die richtige Szenerie gehabt. Aber der Regisseur wollte die Esssaalbühne, weil man dort die Sätze besser verstand und es sich, weil es eine Komödie war, um schwierigere Sätze handelte als die Sätze aus Agamemnon oder der Iphigenie auf Tauris . Bei einer Komödie musste jedes Wort glasklar verständlich sein.
Nun saß der Junge nicht mehr vor dem Vorhang, sondern stand hinter ihm. Als er am Tag der Aufführung durch das geschlossene Tuch hindurch den sich füllenden Saal beobachtete, klopfte ihm das Herz bis zum Halse. Er suchte nach den Gesichtern seiner Klassenkameraden, von denen keiner im Stück mitspielte. Adrian saß ziemlich weit hinten. Das war typisch! Nur kein allzu großes Interesse zeigen. Was bei ihnen, den Schauspielern, sich seit der Generalprobe geändert hatte, waren die Kostüme. Sie hatten keine wirklich richtigen Kostüme, obwohl das Theaterspielen eine so lange Schultradition hatte. Aber es gab erfindungsreiche Helfer, die das jeweils passende Kostüm herbeischafften. In der Rolle des Orlando musste er anfangs aussehen wie ein etwas verarmter junger Adliger um 1600, später eher wie ein Jäger. Die meisten anderen Rollen mussten sich mit Hemden und Hosen genügen, die man nach der Mode der englischen Renaissance zurechtgemacht hatte. Und die verschiedenen Hofpersonen konnte man farblich voneinander unterscheiden. Die Hirten waren keine Anstrengung der Kostümbildner wert, der böse Herzog dagegen war am prächtigsten ausstaffiert. Die beiden jungen Mädchen sahen wie Feen aus, wenn Rosalinde nicht gerade in ihrer rauhen Männerkleidung auftreten musste. Als sie nun alle auch äußerlich ganz anders aussahen als üblich und sogar die Jungen wegen der Beleuchtung geschminkt wurden, da war für ihn das Wunder des Theaters noch wunderbarer geworden. Es gab keine heimliche Spannung mehr, wenn er Rosalinde ansprach. Es ging nur noch darum, die Verse gut zu sprechen, die eingeübten Bewegungen und Gänge auch unter den veränderten Lichtverhältnissen der Beleuchtung richtig zu finden und überhaupt die Konzentration zu erreichen, die erst die wahre Aufmerksamkeit des Zuschauers hervorruft.
Irgendwie waren sie alle auf einmal wirkliche Schauspieler geworden. Nur eines machte sie immer noch nervös – die Lieder! Der Regisseur hatte sich entschlossen, einige auf Englisch singen zu lassen, begleitet von einem kostümierten Schüler auf der Laute. Ein Lied hatte es ihm besonders angetan. Es fing an mit den Worten: »Blow, blow thou winter wind« und hatte einen einfachen Refrain, den er wegen seines Rhythmus und seiner Vokale einfach packend fand: »Heigh-ho! Sing, heigh-ho!« Wie englisch das klang, obwohl es fast deutsch war. Der Beifall war groß. Aber das war noch nicht der Beweis dafür, dass sie auch wirklich gut gewesen waren. Er genoss es, dass die Schauspieler sich im Kostüm unter die Zuschauer mischen durften, wo es Kuchen, Tee und Säfte gab. Das Lob kam vor allem
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