Granatsplitter
mehr ausstoßen als ausrufen musste und ihm wegen des heimatlichen Dialekts das Ch ihres Namens zum zischenden Konsonanten Sch geriet, er also statt »Recha, Recha!« enthusiastisch »Rescha, Rescha!« ausstieß, gab es stürmischen Beifall.
Die Rolle der Recha wurde von einem ihm bisher kaum aufgefallenen, schüchtern wirkenden Mädchen gespielt. Sie war die Tochter eines namhaften Universitätslehrers, und ihre Schüchternheit war Ergebnis einer besonders guten, wenn auch altmodischen Erziehung, sie war Zurückhaltung und nicht Ausdruck mangelnden Selbstbewusstseins. Jedenfalls passte sie vollkommen zu ihrer Rolle, und er selbst nahm Recha ausschließlich als Kameradin im Kostüm, ohne jeden Funken eines anderen Gedankens. Er fand das Ende des Stücks enttäuschend, irgendwie unpassend. Dass plötzlich herauskam, dass Recha nicht die Tochter Nathans, sondern die Schwester des Tempelherrn war und beide sogar verwandt mit dem Sultan Saladin, war ein Zuviel der Überraschung. Es sollte wohl die Gegensätze zwischen Juden, Christen und Mohammedanern als endgültig überwunden zeigen. Von der Dramatik her leuchtete es ihm gar nicht ein. Es war wie in Komödien, in denen die Personen sich als etwas anderes herausstellen als das, was sie zu sein scheinen. So wie schon in Wie es Euch gefällt , wo es aber passte. Auch die versöhnliche Geschichte mit dem Ring war ihm ein Zuviel des Guten. Was war überhaupt das Spannende an dem Schauspiel?
Was ihn tief beeindruckte, war Wolfgang als Nathan. Schon in Wie es Euch gefällt hatte er sich ja gedacht, dass der melancholische Jacques ein anderes Kaliber sei als der verliebte Orlando und wie großartig Wolfgang den Witz von Jacques ausdrückte. Nun aber, als Wolfgang der Weisheit nicht Melancholie, sondern Heiterkeit beimischen musste, klang das noch überzeugender. Er hatte ihn ja eigentlich nur einmal während der Generalprobe gehört. Jetzt jedenfalls hörte er ihn richtig, und sein Respekt vor seinem Zimmerführer, der schon im Alltag so einschüchternd intelligent war, wuchs noch einmal beträchtlich. Das hinderte ihn nicht, sich trotz der Schwierigkeit zwischen Lesen und Spielen als Tempelherr mächtig wichtig vorzukommen. Sein Kostüm war ohnehin das schönste, und der Beifall war gewaltig.
Nach der Aufführung erzählte er der Regisseurin, was er an der Figur des Tempelherrn Besonderes herausgefunden hatte, denn der habe ja bis auf einen Monolog nichts wirklich Weltbewegendes zu sagen. Er würde aber in seinem weißen Gewand für die anderen zu einer Art höheren Erscheinung. Recha sähe in ihm ja zunächst sogar einen Engel, und Saladin erblicke in ihm seinen toten edlen Bruder. Kurz und gut: Der Tempelherr löse, ohne viel sagen zu müssen, die Spannung des Unbekannten aus. Das sei doch auffällig. Warum habe der liebenswürdige Deutschlehrer ihm das nicht gesagt? Sie fand das eine sehr wichtige Beobachtung, musste aber lächeln, weil er sich damit offenbar indirekt selbst in den Mittelpunkt setzte. Aber er habe sowieso etwas Tempelherrenhaftes an sich, er wirke, sagte sie, ohne sich anstrengen zu müssen, auf der Bühne wie einer dieser Kreuzritter. Was sie damit genau meinte, war ihm nicht ganz klar, schließlich gab es seit langem keine Kreuzritter mehr, aber er war trotzdem beeindruckt.
Er lernte jetzt auch den neuen Deutschlehrer besser kennen, der ihm sofort neue Theaterpläne vorschlug, weil er offenbar mit seinem Auftritt als Tempelherr sehr einverstanden war. Er solle in den nächsten Ferien einmal Der Traum ein Leben von Franz Grillparzer lesen. Darin gäbe es die Rolle des Rustan, das wäre etwas für ihn. Bevor er sich aber genauer damit beschäftigen konnte, gab es eine riesige Überraschung. Der Deutschlehrer mit den langen Haaren lud ihn abermals zu einer Lesung nach Hause ein. Er hatte sich wieder etwas ganz Besonderes ausgedacht, ein Stück, von dem der Junge noch nie gehört hatte. Es hieß Dame Kobold und stammte von dem spanischen Dichter Caldéron. Die zweite Überraschung war, als er in der Wohnung auch Feo vorfand. Sie würden beide abermals das Liebespaar spielen. Seine Rolle war Don Manuel, ganz in Schwarz, mit Mantel und Florett, ihre die Dona Angela in überirdischen Gewändern. Rüdiger war auch anwesend, er war für die Rolle des Don Luis vorgesehen, einer Art Nebenbuhler des Don Manuel. Jedenfalls sollten sie sich zweimal duellieren. Bevor die richtigen Proben begannen, ging das Trimester zu Ende. Aber die Ferien, die ihm zu lang
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