Granatsplitter
keinen Moment, obwohl er keine Ahnung von dem Charakter des sogenannten Tempelherrn hatte. Nathan der Weise war im Deutschunterricht nicht durchgenommen worden. Die neue Regisseurin sollte mit ihm die Rolle zunächst einstudieren. Außerdem musste das Kostüm geändert werden, denn Rüdiger war ja ein Hüne. Zu diesem Zweck musste er in den sogenannten Saalbau gehen, in dem die Zimmer der Mädchen lagen. Zwei von ihnen nahmen Maß, etwas Angenehmeres konnte er sich nicht vorstellen. Zu diesem Zeitpunkt hatten er und andere Klassenkameraden begonnen, mit Ferngläsern aus ihren Zimmern in die Fenster des gegenüberliegenden Saalbaus jenseits des Hofes zu sehen. Aber abgesehen von ein paar weißen Schultern der einen oder anderen Schülerin, die zum Duschen ging, kriegten sie nichts zu sehen. Nun aber war er im Allerheiligsten selbst angelangt. Hinter einer scheinheiligen Miene verbarg er seine Gefühle. Wenn die Hände der Kostümmädchen ihn kräftig an der Schulter anfassten oder in der Taille noch einmal nachmaßen, spürte er die Welle eines Gefühls aufsteigen, das ihn so benebelte, dass er nicht richtig hörte, was die sympathische Regisseurin ihm gleichzeitig sagte.
Sie erklärte ihm die Rolle und das Stück. Die wichtigste Rolle, Nathan, würde von Wolfgang gespielt, dem melancholischen Jacques aus Wie es Euch gefällt . Wolfgang war im Internatszimmer des neuen Trimesters sein Zimmerführer und behandelte ihn immer ein wenig von oben herab. Jetzt nannte er ihn plötzlich »d’Artagnan«. Was sollte das heißen? Am Tag der Generalprobe musste er wieder in den Saalbau, weil die für das Kostüm zuständigen Mädchen seine Kreuzrittergarderobe überprüfen wollten. Er hatte einen Brustpanzer an, ohne Helm, und darüber den großen weißen Mantel der Kreuzritter dieses Ordens. Ohne Kreuz. Denn das, so wurde gesagt, hatten nur der spätere Deutschritterorden, die Malteser und die englischen Kreuzritter. Von den Kenntnissen und dem Interesse der Kostümmädchen fühlte er sich so geschmeichelt, dass ihm das allein schon wert gewesen wäre, für die Rolle vorgeschlagen worden zu sein. Er hatte keine Ahnung, wie man, wenn man alleine mit ihnen war, mit ihnen umging. Er hatte noch keine Freundin wie der eine oder andere der älteren Schüler, zum Beispiel Rüdiger. Wer eine Freundin hatte, durfte abends auf einer bestimmten Landstraße für eine halbe Stunde mit ihr spazieren gehen, so wie auch andere Schüler, die zu zweit dort einhergingen und sich unterhielten. Er wäre für sein Leben gern mit Feo gegangen. Aber die dachte nicht daran, eine einladende Miene zu machen. Seit ihrem Bühnenauftritt als Orlando und Rosalinde hatten sie kein Wort miteinander geredet, er sah sie nur von weitem im Esssaal. Jetzt aber, als er zum letzten Mal vor der Aufführung des Nathan in einem Zimmer der Mädchen saß und geprüft wurde, ob alles ordentlich passte, kam Feo den Gang entlang und machte eine überraschte Bemerkung. Obwohl sie in der gleichen Klasse war wie Rüdiger, hatte sie nicht mitgekriegt, dass die Rolle des Tempelherrn gewechselt hatte.
Immerhin tat ihm ihre überraschte Bemerkung gut, sodass er in einer fast überschwänglichen Stimmung zu den anderen Schauspielern auf die Bühne ging. Wie im Falle von Wie es Euch gefällt fand die Aufführung wieder auf der Empore des Esssaals statt, mit den vier aufgerichteten langen Tischen als Bühnenwand. Der Vorhang war schon zu. Die Regisseurin richtete nur noch einige aufmunternde Worte an ihn, und dann ging es los. Als der Vorhang aufging und er mit dem Reclamheft in der Hand auf seinen ersten Auftritt wartete, verdrehte sich ihm plötzlich die Reihenfolge der Szenen. Und als er dann hinausmusste auf die Bühne, zeigte sich, woran sie bei den Vorbereitungen nicht gedacht hatten: Nicht auswendig gelernte Sätze einerseits abzulesen, andererseits doch die Rolle richtig zu spielen. Das ging sofort schief. Im Eifer der Situation verlor er die jeweilige Strophenzeile, ja er verlor sogar den nächsten Einsatz. Merkwürdigerweise merkte das Publikum seine Not gar nicht, nicht einmal, als er verlorene Worte einfach dazuerfand. Schließlich half er sich aus der Klemme, indem er jede erledigte Seite aus dem Reclamheft herausriss und mit großer Gebärde hinter sich warf. Auf diese Weise verband er das Nützliche mit dem Schönen und verminderte die Gefahr, in eine falsche Seite oder Strophe zu geraten. Als er in einer Szene mit Recha, der von ihm Geliebten, zweimal ihren Namen
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