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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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mit dem besten Prädikat. Die Naturwissenschaften waren dagegen verheerend. Physik und Chemie gingen völlig an seinem Interesse vorbei, nur in Mathematik bemühte er sich, das Notwendigste mitzukriegen. Aber das beunruhigte ihn nicht, obwohl er sich manchmal fragte, woher eigentlich dieses absolute Desinteresse und die schlechte Leistung in den Naturwissenschaften kamen. Das war ja schon in der Volksschule so, als der Lehrer dem Vater erzählt hatte, was der Junge auf die Frage, warum er denn nicht an dem Experiment teilnehmen wolle, geantwortet habe: dass die Physik nichts mit ihm selbst zu tun habe. Er verscheuchte diese manchmal an ihm nagende Frage. Irgendwie ahnte er, dass da etwas nicht stimmte, der Deutschlehrer hatte ihm ja sowieso schon gesagt, er sei ganz widersprüchlich. Einer, der so glänzende Aufsätze schriebe und so strukturierte Schlussfolgerungen ziehe, der müsse sich zumindest in Mathematik etwas mehr Mühe geben können. Dass er aus seinen inneren Bildern nicht vertrieben werden wollte und deshalb Fakten und Wirklichkeit beiseite schob, war das der heimliche Grund für diese Abwesenheit seines Geistes bei naturwissenschaftlichen Themen?
    Er durfte seit einiger Zeit jüngeren Schülern Nachhilfeunterricht in Latein geben. Schließlich hatte man ihn auch zum Kulturhelfer gewählt. Das war vorher Rüdiger gewesen, der vor allem literarische Abende vorbereitet hatte. Die Aufführung des nur aus einer Szene bestehenden Schauspiels Der Tor und der Tod von Hofmannsthal war der Höhepunkt von Rüdigers Zeit als Kulturhelfer. Rüdiger selbst sprach die Hauptrolle des Claudio. Es war ungemein beeindruckend. Nicht bloß Hofmannsthals Verse, sondern wie Rüdiger sie sprach. Konrad sprach die Verse des Todes. Auch er mit einer für ihn immer schon charakteristischen Autorität. Wie er den Satz aussprach: »Steh auf! Wirf dies ererbte Graun von dir! Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe. Aus des Dionysos, der Venus Sippe ein großer Gott der Seele steht vor dir.« Konrads außergewöhnlich bestimmte und artikulierte Stimme war noch deutlicher geworden. Rüdigers dunklere, melodiösere passte genau zum Charakter des Helden. Und die Hofmannsthalschen Worte passten zu seiner eigenen Stimmung, auch wenn er eigentlich dessen Problem nicht kannte. Dafür war er viel zu spontan. Es hatte ihm genügt, aus Rüdigers Mund den Satz zu hören, nicht wirklich gelebt zu haben: »Musik? Und seltsam zu der Seele Redende! Hat mich des Menschen Unsinn auch verstört? Mich dünkt, als hätt’ ich solche Töne von Menschengeigen nie gehört…« Das bezog sich auf das Geigenspiel des Todes, der ins Zimmer getreten war. Die Aufführung dauerte nicht länger als eine Stunde, aber sie blieb das ganze Trimester im Gedächtnis haften. Wie normal sie dagegen lebten. Das geistige Leben musste etwas anderes sein.
    Als er nun selbst Kulturhelfer geworden war, war ihm Rüdigers Hofmannsthal-Aufführung ein Vorbild gewesen. Das war Kultur! Aber zu etwas ähnlich Großartigem kam es nicht. Er bekam nämlich den Auftrag, den Schülern der Obertertia, wenn sie schon zu Bett gegangen waren, abends vorzulesen. Er könne sich dafür aussuchen, was er wolle. Er wählte E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels . Das würde für das ganze Trimester reichen, und die Spannung würde nicht nachlassen. Es war zwar keine Aufgabe, die vergleichbar war mit der Aufführung von Der Tor und der Tod , aber er fühlte sich abermals verantwortlich gemacht. Zuerst durch den Nachhilfeunterricht für schwächere Schüler in Latein, für dessen Erfolg er schon Anerkennung bekommen hatte. Jetzt selbst entscheiden zu können, was zum Vorlesen für die jüngeren Klassen geeignet sei – es war eine glorreiche Zeit. Die Entdeckung des Geistes war auch bei ihm im Gange, so sagte er sich. Er hatte die großen Vorbilder gefunden.

IN EXISTENTIALISTISCHEN SANDALEN
    Es kam noch häufiger vor, dass seine Phantasie stärker war als seine Beobachtung. Er war immer ein Phantasierer gewesen. Es trat aber eine Änderung seiner guten Stimmung ein. Er sah die Dinge allmählich weniger im rosigen Licht seiner großen Eindrücke von der Schule und von sich selbst. Das führte am Ende zu einem Zwischenfall, der ihm um ein Haar das Consilium abeundi eingebracht hätte. Harmloser blieb sein Irrtum beim abendlichen Vorlesen der Elixiere des Teufels . Das war für Vierzehnjährige die falsche Wahl gewesen, wie er sich schon vorher hätte denken können. Es handelte sich ja

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