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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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wollte. Offenbar wollte er den Schmerz, der ihn quälte, begrüßen, ihn nicht beklagen, nicht über ihn klagen. Aber warum, was für ein Schmerz und weshalb? Das blieb ihm völlig unklar. Er war aber von solchen Sätzen so angezogen, weil sie die Atmosphäre eines Zustandes ausdrückten, den er seit einiger Zeit zu kennen glaubte. Das hatte schon angefangen, als der Vater ihn auf der Straße gefragt hatte, warum er so traurig aussähe und er keinen Grund dafür angeben konnte. Wunderbar klang auch der Satz in der vierten Strophe: »Sieh die verstorbenen Jahre neigen sich von den Balkonen des Himmels«. Wiederum verstand er nicht genau, was das sagen sollte. Aber dass Jahre verstorben waren, was für ein Gedanke!
    Der Griechischlehrer hatte etwas bissig, wie es häufig seine Art war, auch noch gesagt, Baudelaire sei nicht romantisch. Für ihn war das aber romantisch. Zum Beispiel der Satz: »Gedachtest du da jener Tage, die so schön und glänzend waren«. Er hatte darüber fast geweint, so stark brachten ihn die Worte zum Nachdenken über die vorbeifließende eigene Zeit hier im Internat. Diese Worte erinnerten ihn an einige Gedichte von Hofmannsthal, die er auch nur schön fand, ohne ihnen einen genauen Sinn zu geben. So ein Satz wie »Ganz vergessner Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern«. Allerdings, die meisten Gedichte in der Sammlung Les Fleurs du Mal blieben ihm fremd, abgesehen von den aufreizenden erotischen Beschreibungen nackter Frauen, die ihm fast den Atem verschlugen: ihre weißen oder braunen Brüste! Natürlich wäre es unmöglich gewesen, so etwas im Französischunterricht zu lesen. Ihr Französisch war ohnehin noch nicht gut genug dafür. Der Name Baudelaire war im Unterricht nie gefallen. Hätte er nicht immer wieder an den Arbeitsgemeinschaften des Griechischlehrers teilgenommen, wäre ihm der Name Baudelaire unbekannt geblieben. Jetzt aber setzte er sich in ihm fest als ein geheimes Zeichen für etwas, das er noch nicht genau ausdrücken konnte. Es war wohl die Anmaßung dieses Dichters! Wenn ihn das Gefühl des unbekannten Traurigseins überkam, dann dachte er von nun an an Baudelaire. Er fühlte endgültig keinen Einfluss des Vaters und des Mentors mehr. Dieses Traurigsein von Baudelaire aber blieb als ein unklares, herausforderndes Gefühl in seinem Kopf.
    An einem Nachmittag, als er während der Freizeit in seinem Zimmer in Baudelaires Gedichten las, kam Rüdiger herein, wahrscheinlich ohne zu klopfen. Rüdiger war kurz davor, in die Oberprima versetzt zu werden. Er sah sich an, was er las, und fragte plötzlich, was er denn einmal studieren wolle. Die Antwort kam ihm ganz selbstverständlich: Germanistik. Da erwiderte Rüdiger: »Das studiert man nicht, das weiß man.« Er hatte darauf keine Antwort parat. Nur die innere Stimme, die ihm sagte: Was der da an überheblichem Zeug auch von sich gibt, kann meine Vorfreude auf ein solches Studium nicht beeinflussen. Es war klar, dass Rüdiger nicht bloß seine literarische Bildung ausstellen wollte. Das tat er ja jeden Tag, wenn er mit einem Gedichtband in der Hand alleine in der Gegend spazierenging. Nein, er wollte sagen, dass Germanistik etwas für zukünftige Lehrer sei, nicht fein genug für ihn. Rüdiger würde Jura studieren und Rechtsanwalt werden. Das sagte er nicht so direkt, aber es wurde schon deutlich, worauf er hinauswollte. Er selbst erklärte nicht, was er mit dem Germanistikstudium eigentlich bezweckte, nämlich Literatur berufsmäßig zu erklären, das heißt Universitätsprofessor zu werden. Das war nun seinerseits ein ziemlich anmaßender Einfall, den er überhaupt keinem hätte sagen wollen. Nicht einmal Adrian. Ihm war dieser Gedanke vertraut seit der Analyse von Goethes Gedicht Willkommen und Abschied . Und der Lektüre der Bücher von Bruno Snell, Wolfgang Kayser und Emil Staiger. So etwas wollte er auch einmal schreiben.
    Obwohl er diese Werke ja überhaupt nicht wirklich genau gelesen und eine Reihe von Ausführungen auch nicht verstanden hatte, war der Eindruck von etwas ganz Großem, Beispielhaftem, Nachzueiferndem bei ihm haften geblieben. Die nun dem Ende zugehende Obersekunda und die bevorstehende Versetzung in die Unterprima war für ihn zur bisher schönsten Zeit in der Schule geworden. Seine Noten in Griechisch und Latein wurden immer besser, sie lagen zwischen sechzehn und achtzehn Punkten nach der französischen Benotung, also sehr hoch. Den Deutschunterricht absolvierte er sowieso immer

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