Grand Cru
Unternehmen rausschlagen. Ich fürchte, die Stadt geht mit einem Elefanten ins Bett und lässt sich von der Matratze schubsen. Aber der Bürgermeister meint, ohne neue Arbeitsplätze würden in Saint-Denis bald alle Lichter ausgehen.«
»Was wäre schlimmer?«, fragte sie und nahm die Aussicht in sich auf. »Angenommen, du überwirfst dich mit dem Bürgermeister. Ob du nun den Dienst quittierst oder gefeuert wirst - das Projekt wird trotzdem durchgezogen. Du könntest in jedem Fall einen Posten in Paris annehmen. Jean-Jacques und ich würden dafür sorgen, und dann ziehst du zu mir. Unseren Urlaub würden wir dann immer in deinem Haus verbringen. Fändest du das so schlecht?«
Sie wandte sich ihm zu und hielt seine Hand fest. »Wer von uns beiden ist eigentlich dickköpfiger? Ich, weil ich in Paris bleiben möchte, oder du, weil du dein Landleben in Saint-Denis partout nicht aufgeben willst? Wir könnten miteinander glücklich sein und gehen doch getrennte Wege. Was, wenn Saint-Denis dich fallen lässt, Bruno? Was dann?«
Sie wartete auf eine Antwort, doch er hatte keine parat. Ein neues Leben in Paris, mit Isabelle. Heirat, vielleicht Kinder. Eine überaus verlockende Vorstellung, aber irgendwie konnte er nicht daran glauben. Bruno kannte sich gut genug, um zu wissen, dass seine Anhänglichkeit an Saint-Denis viel mit seiner Kindheit als Waise zu tun hatte. Die Stadt war ihm Familienersatz, der Bürgermeister eine Art Vaterfigur. Jetzt bot sich die Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen, und er fürchtete sich davor, obwohl es für ihn nie eine andere Frau gegeben hatte, die ihm als Freundin und Geliebte so viel bedeutete wie Isabelle.
Er umarmte und drückte sie an sich. »Warten wir ab, wie sich die nächsten Tage entwickeln«, sagte er. »Wirst du bei mir wohnen?«
»Das geht leider nicht«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Man hat mich in Bordeaux untergebracht, und ich muss morgen um neun zum Rapport.
Merde,
Bruno, ich weine doch sonst nie...« Sie wandte sich ab und hielt sich eine Hand vor die Augen.
Gigi kam angelaufen und blickte fragend zu seinem Herrchen auf, der Isabelle in den Armen hielt und ihr übers Haar strich. Zum Training der
minimes
würde er zu spät kommen. Er dachte an die Knirpse, daran, wie gern er sie trainierte, lernen und aufwachsen sah, und spürte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln entspannte. Sie waren einer der Gründe, warum er sich hier so wohl fühlte, in seiner Position, die für ihn sehr viel mehr war als bloß ein Job. Wollte er diese Position aufs Spiel setzen? Er war sich wahrhaftig nicht sicher.
21
Bruno vertrat die Auffassung, dass sich der nationale Charakter eines Landes nicht zuletzt in seiner Rugbykultur ausdrückte. Die Engländer begeisterten sich für den Zermürbungskrieg im Schlamm, für blutige Nasen und wüste Gefechte um jeden Quadratzentimeter Boden unter grauem Himmel. Die Waliser setzten auf den Sturmlauf einer wieselflinken Nummer zehn durch die Hauptlinie der gegnerischen Verteidigung. Die Schotten liebten den heroischen Angriff, mochte er auch noch so aussichtslos erscheinen, den tapferen Sprint über die Flügel und mitten ins Gewühl. Die Iren führten kreative List und Tücke ins Feld, wechselten blitzschnell die Angriffslinie und frustrierten die gegnerische Mannschaft mit weiten Kicks.
Die Franzosen aber spielten außergewöhnlich fair und setzten häufig ihre Hintermannschaff wie Flügelstürmer ein. Besser noch, sie stellten ihre Stürmer gern auf die Positionen des langen und kurzen Außendreiviertels, die dann den Ball hin und her warfen und mit blitzschnellen Ausweichmanövern durch die Reihen der Verteidiger brachen. Und genau das versuchte Bruno seinen Zehnjährigen beizubringen, und er drillte sie darauf, immer nur drei Schritte hinter dem Jungen mit dem Ball zu sein, bereit, einen Pass entgegenzunehmen.
»Umdrehen und passen, umdrehen und passen. Und genauere Pässe«, brüllte er keuchend, als er der Länge nach übers Feld und wieder zurückrannte. »Tackling tiefer ansetzen! Hört ihr, Jungs? Versucht, sie am Fußgelenk zu erwischen, nicht bei den Armen. Tiefer. Je tiefer, desto besser.«
Inzwischen schlenderten die ersten Spieler der Jugend- und der Reservemannschaft durchs Tor und steuerten auf die Umkleidekabinen zu. Ein paar Freundinnen nahmen auf der Tribüne Platz, um beim Training zuzusehen, darunter auch Jacqueline, die offenbar mit Max gekommen war. Fleißiges Mädchen, dachte Bruno, hat gleich zwei
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