Grandios gescheitert
Auseinandersetzungen waren alles andere als Geplänkel. Sie brachten nicht nur Milon um seinen Job, sondern führten darüber hinaus zur Einstellung der Arbeiten auf der Kathedralbaustelle von Beauvais. Es ist anzunehmen, dass die Bauhütte weitgehend aufgelöst wurde und die Arbeiter sich anderswo um Anstellung bemühten. Fast zwei Jahrzehnte lang tat sich an der Kathedrale wenig bis gar nichts. Milons unmittelbarer Nachfolger hatte im Kräftemessen mit dem König genug zu tun. Erst der nächste Bischof, Robert de Cressonsacq, nahm sich der Sache wieder an. Er wurde 1237 gewählt, und inzwischen hatte das Bistum seinen Frieden mit der Krone gemacht, auch wenn dieses Nachgeben die Aufgabe alter Rechte bedeutete und der König fortan erheblichen Einfluss auf das Bistum nehmen konnte. Das tat er auch – und schreckte nicht davor zurück, Bürger und Bischof gegeneinander auszuspielen, wenn er sich davon einen Vorteil versprach.
Aber schon im Mittelalter war Realpolitik auf Dauer vielversprechender, und so arrangierte man sich notgedrungen mit dem gestiegenen Machtanspruch der Krone. Immerhin bedeutete dieses Einlenken, dass die Gelder wieder flossen und der Kirchenbau wieder aufgenommen werden konnte. Allerdings verfügte Bischof Robert im Gefolge der Auseinandersetzungen mit dem König und den im Vergleich zu früher spärlicher fließenden Einnahmen des Bistums nur über begrenzte Geldmittel – was seinem Anteil am Bau auch anzusehen ist. Dass überhaupt weitergebaut wurde, mag man als Kompensation für den Prestigeverlust begreifen, denn das Ego des Bistums muss arg gelitten haben. Im Zeitgeist gedacht, wäre den Akteuren wichtiger gewesen, den Faden wieder aufzunehmen, den die schändliche Unordnung aus den Händen hatte gleiten lassen, denn das konnte nicht gottgefällig sein. Ein gutes Jahrzehnt später sollte der einflussreiche Thomas von Aquin befinden, etwas Unvollständiges könne nicht schön sein. Ganz abgesehen davon konnte die Bischofsstadt mit ihrer Kathedrale als Baustelle auf lange Sicht schlechterdings nicht leben. Bischof Robert war jedoch nicht lange mit dem Kirchenbau befasst, denn 1248 begab auch er sich, zusammen mit dem König, auf einen Kreuzzug und kam noch im selben Jahr auf Zypern zu Tode.
Inzwischen war, seitdem Abt Suger von Saint-Denis sich als Bauherr betätigt hatte, ein Jahrhundert vergangen und viel gebaut worden. Nachdem sich der neue Stil durchgesetzt hatte, zog man es vor, das Alte nicht mehr mit dem Modernen zu ergänzen, sondern es zugunsten eines ganz neuen Gebäudes abzureißen. Häufig kam dem Abriss auch Zerstörung zuvor wie in Chartres, wo man einen verheerenden Brand 1194 als Fingerzeig der Patronin Maria begriff, sogleich neu, aber größer und schöner und stolzer zu bauen. Das gelang auf beeindruckende Weise, denn die Kathedrale von Chartres, vollendet 1260, setzte in Größe und Monumentalität neue Maßstäbe, und nicht jeder konnte mithalten, weil damit ein erheblicher Kostenaufwand verbunden war. Als Krönungskirche der französischen Könige bekam die Kathedrale von Reims, deren Altbau ebenfalls brandzerstört war, das nötige Geld mühelos zusammen. Die reiche Bischofsstadt Amiens nahm nach einer Brandkatastrophe 1218 die Herausforderung ebenfalls an und errichtete das bis heute größte Kirchenbauwerk des französischen Mittelalters: 145 Meter lang, 42,30 Meter hoch, dazu ein Turm über der Vierung von 112,70 Metern Höhe. Das Raumvolumen ist doppelt so groß wie das der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Möglich war das alles nur durch Rationalisierungsmaßnahmen beim Bau: Nicht mehr wurde jeder einzelne Stein individuell behauen, sondern man normierte die Steine. Auch für andere Bauteile wurden Schablonen hergestellt. So wurde es billiger, auch weil die Arbeiten ganzjährig stattfinden konnten.
In Beauvais folgte auf Bischof Robert 1249 Guillaume de Grez, der sich mit Feuereifer an die Fortführung des Bauprojekts machte. Dabei kam er kaum an der Tatsache vorbei, dass das Prestige des Bistums litt, je höher in Amiens und Chartres, Bourges und Reims die Kathedralen in die Höhe wuchsen. Er musste ja das Gefühl haben, von seinen Bischofskollegen insgeheim ausgelacht zu werden – wenn sie es nicht tatsächlich taten. Für die wiederaufgenommenen Anstrengungen verlangte Guillaume den Bürgern der Stadt vermutlich höhere Steuern ab; in den 1260er-Jahren kam es denn auch prompt wieder zu Spannungen zwischen Stadt und Bistum. Guillaume war Doktor der Pariser
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