Grandios gescheitert
Universität, was erklären mag, dass beim Weiterbau stilistische Veränderungen erkennbar sind, die von Paris beeinflusst sein dürften: Man baute jetzt filigraner im hochgotischen Stil des Rayonnant, wie er von Notre-Dame de Paris bekannt ist. In diesem Stil ging die Arbeit am Chor weiter, dessen lichtdurchflutete Anmut mit den intellektuellen Hochleistungen der religiösen Denker dieser Zeit verglichen wurde.
Wie auch immer, der Chor der Kathedrale Saint-Pierre von Beauvais machte der geistig-geistlichen Blüte im Paris des 13. Jahrhunderts alle Ehre – bis auf Weiteres jedenfalls. Bischof Guillaume beschloss sogar, noch fünf Meter höher zu bauen als bislang geplant. Vermutlich sollte so kompensiert werden, dass die noch von Milon geplanten Türme über dem Querschiff inzwischen gestrichen worden waren. Aber vor allem stellte dies wohl eine klare Reaktion auf die Konkurrenzkathedrale in Amiens dar, die man zu übertrumpfen gedachte. Bevor Guillaume 1267 starb, bestimmte er noch eine große Summe seines Vermögens für den Weiterbau der Kirche, in der er, wohl als Erster, beigesetzt wurde. Die Ehre der Einsegnung des neuen Chores jedoch kam seinem Nachfolger zu; sie erfolgte an Allerheiligen im Jahr 1272. Zum Zeitpunkt der Einsegnung war die Kathedrale keineswegs fertig, aber immerhin groß und eindrucksvoll genug, um darin künftig Gottesdienste feiern zu können. Mit mehr als 48 Meter Höhe übertrifft der Chor den von Amiens und damit auch alle anderen gotischen Kirchen. Und er war in seiner Ausführung überwältigend, sowohl von innen als auch von außen. Die Dimensionen ließen keinen Zweifel: Würde der Bau fortgesetzt, erhielt Beauvais eine Kathedrale, die alle anderen Gotteshäuser der Christenheit in den Schatten stellte.
Die Katastrophe einer Novembernacht
Es sollte aber anders kommen, denn eine Katastrophe ereignete sich in Beauvais: Am 29. November 1284, zwölf Jahre nach der Einsegnung des Chores, abends gegen acht Uhr brach das Chorgewölbe ein, mehrere Außenpfeiler stürzten zusammen, und die großen Fenster zerbrachen. Von höherer Gewalt der Elemente ist für die Region nichts bekannt: Weder ein Sturm noch ein Erdbeben sind überliefert. Und auch vom Geschehen in Beauvais existiert kein schriftliches Zeugnis von Zeitgenossen. Man darf aber annehmen, dass vielleicht schon das Rumpeln, das den Einsturz ankündigte, ganz sicher aber das Getöse des einbrechenden Chores die Menschen auf die Straße trieb. Und vermutlich konnte man, trotzdem die Sonne längst untergegangen war, noch Stunden später die Staubwolke über der Kathedrale und dem angrenzenden Stadtviertel vom restlichen Nachtdunkel unterscheiden. Gut möglich auch, dass die Beauvaiser in jener Nacht keinen Schlaf mehr fanden: aus Furcht, das könne noch nicht alles gewesen sein, aus eifrigem Schwatzen darüber, ob weltliche oder himmlische Ursachen dafür verantwortlich zu machen waren – oder weil sie, angsterfüllt, beim Beten einfach kein Ende fanden.
Was aber hat den Kollaps des mächtigen Gebäudes hervorgerufen? Zeitgenossen mögen es als Strafe für die Hybris der Bauherren gesehen haben, die die höchste Kirche ihrer Zeit errichten wollten. War es nicht wie Gottes Strafmaßnahme, als er den Turmbau zu Babel vereitelte, weil die Menschen allzu nah gen Himmel strebten? Und gab es da womöglich eine Parallele zwischen der babylonischen Sprachverwirrung, die das biblische Bauvorhaben zu Fall brachte, und den nicht enden wollenden Konflikten aller Art, die in der Folge den Wiederaufbau behinderten?
Solche Erklärungsmuster lagen für die gottesfürchtigen Menschen des Mittelalters durchaus nahe, aber heute können wir sie als naiv abtun und allenfalls als symbolischen Aspekt behandeln. Eine modernere Version der zeitgenössisch-gottesfürchtigen Erklärung lautet, mit dem Ziel der höchsten Kirche hätten die Erbauer ihr Können überschätzt, ihre Möglichkeiten überreizt. Nun lässt sich aber aus Stein problemlos himmelhoch bauen, solange man die Steine dicht an dicht übereinanderschichtet. Durchaus wurden zur Zeit der Gotik Türme gebaut, die Saint-Pierre de Beauvais an Höhe mühelos übertreffen. In der Tat aber steht die Größe des umbauten Raums mit den baulichen Möglichkeiten in Zusammenhang. Um höher bauen zu können, also größere Kirchenräume zu erzielen, nutzten die Architekten der Gotik Rippengewölbe im Inneren und Strebebögen außen, um den Schub möglichst gut zu verteilen und abzuleiten. Darin hatten
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