Grandios gescheitert
die Fachleute auch viel Erfahrung angesammelt. Das Vorhaben von Beauvais war also keineswegs von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wo aber fand dann in Beauvais der Pfusch am Bau statt, der die Katastrophe einbrechen ließ?
Zur Erklärung hat es über die Jahrhunderte verschiedene Vorschläge gegeben, die mal bestätigt, mal angezweifelt wurden. Zum angeblichen Limit der Bauhöhe, das missachtet worden sei, trat die Annahme, das Fundament sei unzureichend gewesen und habe sich abgesenkt, was die Statik der Kathedrale aus der Balance brachte. Auch der verwendete Mörtel stand im Verdacht, geschwächelt zu haben. Andere befanden, die Spannweite zwischen den Bögen im Inneren des Gebäudes sei schlichtweg zu groß gewesen. Tatsächlich besitzt das Chorgewölbe von Beauvais die größte Spannweite, die eine französische Kathedrale der Gotik je erhielt. Und in der Tat wurden beim Wiederaufbau im Chor zusätzliche Pfeiler eingezogen. Die enorme Spannweite musste durch entsprechend starke Strebebögen an der Außenseite aufgefangen werden, die aber dem Druck der Choraußenwände und des Daches in Kombination mit der Windlast möglicherweise nicht standgehalten haben. Vermutlich war der erste Knackpunkt ein Gewölbe im Chorumgang, das breiter war als alle anderen, was aber weder von äußeren Strebebögen noch von den benachbarten Stützpfeilern ausgeglichen wurde. Wenn daher 1284 das System der Strebepfeiler hier nachgab, musste in der Folge der obere Chor nach und nach zusammenbrechen.
Alle Erklärungsansätze sind mit einem entscheidenden Schwachpunkt behaftet: Wir kennen den exakten Bauzustand vor dem Einsturz nicht, weshalb ein Nachweis schwerlich erbracht werden kann. Natürlich gibt es keine Fotos vom eingestürzten Bau, nicht einmal Zeichnungen – die Diagnose muss also über den erneuerten Bau erfolgen. Vermutlich war die Katastrophe eine Kombination verschiedener Faktoren, die den Chor von Saint-Pierre einstürzen ließen. Die drei Baukampagnen, die sich in der Kathedrale klar unterscheiden lassen, hatten zu strukturellen Schwächen geführt: Süd- und Nordfassade waren unzureichend aufeinander abgestimmt, was dort problematisch wurde, wo Chorrund und Mittelschiff aufeinanderstießen. Die stilistische Fortentwicklung der gotischen Kunst verlangte filigraneres Bauen, was aber zu statischen Problemen führte, als die Bauhöhe erweitert wurde – zumal das obere Strebewerk außen am Chor zu ambitioniert gestaltet war. Allzu sehr hatte man darauf geschielt, die Kathedrale von Amiens noch zu übertreffen. Wie auch immer: Verschiedene Schwachpunkte im und am Gebäude summierten sich, bis schließlich ein Limit überschritten wurde, als die geplante Höhe des Chores noch einmal überboten werden sollte.
Der beste Kenner der Baugeschichte von der Kathedrale Saint-Pierre de Beauvais, Stephen Murray, fügte seiner bautechnischen Ursachenforschung zur Katastrophe von 1284 folgende Aussage an: »Es ist nicht völlig abwegig zu behaupten, dass der Chor von Beauvais deshalb zusammenbrach, weil ein stolzer Bischof der Mutter des Königs ein Verhältnis mit dem päpstlichen Legaten unterstellte.« Das ist natürlich arg zugespitzt, wirft aber ein Licht auf die weiteren Faktoren, die zu den baulichen traten und sie beeinflussten. Der Einsturz der Kathedrale von Beauvais ist nicht auf überzogenen Ehrgeiz zurückzuführen, sondern nur zu erklären, wenn man die äußeren Umstände, die die Baugeschichte komplizierten, mit in Rechnung stellt. Der Kampf der Bischöfe nach allen Seiten, der den Weiterbau immer wieder verzögerte, brachte neue Verantwortliche ins Spiel und führte zu Umplanungen, die die Statik des Gebäudes immer mehr strapazierten.
Langwieriger Wiederaufbau
Die Katastrophe war ein herber Rückschlag, den zu überwinden viel Zeit und Geld erforderte. Vierzig Jahre lang fand in der unfertigen und nunmehr auch versehrten Kathedrale kein Gottesdienst mehr statt, und selbst dann waren die Reparaturarbeiten alles andere als abgeschlossen. Insgesamt dauerte die Wiederherstellung des Chorbaus länger als dessen Errichtung. Das lag aber nicht nur an der schwierigen Aufgabe und dem Willen, eine neue Katastrophe zu verhindern. Die nunmehr im Amt befindlichen Bischöfe waren überwiegend knausrig mit ihren Finanzmitteln. Das könnte daran liegen, dass mehr Geld nach Paris floss, aber auch, dass dieser Kathedralbau ein ererbtes und daher vielleicht ungeliebtes Projekt der Amtsvorgänger war – oder dass viele Bischöfe
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