Grandios gescheitert
Plötzlich gaben die westlichen Pfeiler der Vierung nach, dann die Säule im Südosten, sodass auf der verbliebenen vierten Säule die gesamte Last des Turmes lag. Als auch sie nachgab, stürzte der Turm zusammen. Glücklicherweise hatte da die große Feiertagsprozession die Kathedrale bereits verlassen, sodass nur zwei Menschen verletzt wurden. Die Kirche aber war zum zweiten Mal stark beschädigt, und der Wiederaufbau kostete eine beträchtliche Summe. Um die Reparaturen zu finanzieren, wurden eine kleine Orgel und wertvolle Objekte des Domschatzes veräußert, außerdem die Pariser Residenz der Bischöfe. Der König spendete Bauholz, der Bischof Geld für den Wiederaufbau, und auch verschiedene Bürger von Beauvais beteiligten sich. Das ermöglichte, die Kathedrale bereits wenige Jahre später in den Zustand vor dem Kollaps des Turms zu versetzen – allerdings ohne den Turm, auf den man nunmehr ganz verzichtete. Bis heute lassen sich am Holzgewölbe der Vierung das Unglück vor über vier Jahrhunderten und seine Folgen nachvollziehen.
Der Bau des Langhauses wurde nie vollendet, mit ihm hätte man die Länge der Kirche verdoppelt, also der grandiosen Höhe des Daches einen in den Proportionen angemesseneren Baukörper beigefügt. Nach Problemen mit der provisorischen Westwand der Kathedrale – also da, wo ans Querhaus das Langhaus hätte anschließen sollen – wurde 1605 eine neue Wand errichtet, die bis heute existiert. Inzwischen war die Stilepoche der Gotik in die Jahre gekommen und die Zeit der Renaissance angebrochen – jene Zeit, die alles Mittelalterliche als überkommen abtat und die gotischen Kathedralen als bauliches Relikt der »dunklen Zwischenzeit« betrachtete. Jedes Bauwerk hat seine Zeit – aber die Zeit der Kathedrale von Beauvais war abgelaufen, bevor das ehrgeizige Bauprojekt hatte vollendet werden können.
Wie ein Ballett gegen die Schwerkraft
DIE WASSERKUNST VON TOLEDO
Für einen Großteil der menschlichen Geschichte, seitdem die Menschen städtische Siedlungen gründeten, waren überall in der Welt vor allem zwei Kriterien ausschlaggebend für die Wahl eines Ortes: eine gute strategische Lage und die Nähe zum Wasser. Die Stadt Toledo in Zentralspanien ist in beiderlei Hinsicht überaus gesegnet. Zum einen liegt die Stadt hoch oben auf einem Felsen und lässt sich dadurch wirkungsvoll verteidigen, weshalb nur zweimal in einer jahrhundertelangen Geschichte Belagerern die Einnahme gelang. Zum anderen fließt zu Füßen der kastilischen Stadt der Tajo, der längste Fluss der Iberischen Halbinsel. Nach vielleicht zwei Fünfteln der Strecke zwischen seiner Quelle in der ostspanischen Sierra de Albarracín und seiner Mündung in den Atlantik bei Lissabon, wo er portugiesisch Tejo heißt, macht der Tajo eine scharfe Biegung. Dort, also vom Flusslauf an drei Seiten schützend umschlossen, erhebt sich hoch oben die Stadt, gekrönt von der Kathedrale Santa Maria und der Festung Alcázar. Zu diesen günstigen Bedingungen kam die Rolle des Tajo als Handelsweg, die der Stadt wirtschaftlich ebenso zugutekam wie weitere Handelsstraßen, die hier zusammentrafen. Überdies liegt Toledo einigermaßen genau in der Mitte der Iberischen Halbinsel.
Toledo besaß also alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere. Ein Dorf gab es hier schon sehr lange, über die Zeit der Keltiberer und Römer gewann der Ort an Bedeutung und wurde schließlich im 6. Jahrhundert n. Chr. Hauptstadt des Westgotenreiches. Seit dem 589 unter Vorsitz König Rekkareds abgehaltenen Konzil, auf dem der Glaubenswechsel der arianischen Westgoten zum Katholizismus in die Wege geleitet wurde, bildete die Stadt auch das Zentrum der iberischen katholischen Kirche. Im Jahr 712 eroberten die Mauren die Stadt und ermöglichten Toledo in kurzer Zeit einen weiteren Aufschwung als Handwerks- und Handelsmetropole. Toledo stieg auf zur bevorzugten Schwertschmiede Europas, deren begehrte Erzeugnisse jüdische Händler der Stadt, von den Arabern gefördert, in alle Welt verkauften. Auch als Ort der Studien und der Übersetzung, als Zentrum der Kulturvermittlung zwischen Muslimen, Juden und Christen zeichnete sich die Stadt aus. Ende des 11. Jahrhunderts wurde Toledo im Zuge der spanischen Reconquista zurückerobert und nunmehr zur Hauptstadt des Königreiches Kastilien, das bevölkerungsreiche Herz der spanischen Länder. Der Höhenflug setzte sich fort, wirtschaftlich wie kulturell. Die Übersetzerschule von Toledo ist bis heute
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