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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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Jahr 1788 zurückgreifen, der sich der Aufklärung verpflichtet fühlte, also antiklerikal ausgerichtet war, und sich wie Romme an die ägyptische Kalenderwirtschaft anlehnte. Sein Almanach des Honnêtes Gens allerdings war als »gottlos, sakrilegisch und blasphemisch« verbrannt worden, Maréchal musste für einige Monate ins Gefängnis. Doch auch sein Entwurf besaß in seiner Abkehr von der christlichen Prägung Vorläufer.
    Der Naturwissenschaftler Romme stammte aus der Auvergne, studierte in Paris, ging 1779 als Hauslehrer des Fürsten Stroganow nach Russland und kehrte in den Jahren vor der Revolution mit seinem Schüler zurück. Beide bereisten gemeinsam die Schweiz und Frankreich. Seit 1791 war Romme in der Politik tätig, zuerst als Girondist, später als Anhänger der radikaleren Bergpartei. Er war Mitglied des Erziehungsausschusses, womit die Kalenderfrage in seiner Zuständigkeit lag.
    Seinen Vorschlag für eine Kalenderreform legte Romme im Herbst 1793 vor; er wurde im Großen und Ganzen gebilligt. Romme verwies auf die Reform der Maß- und Gewichtseinheiten, die in ihrer Tragweite nur in einer Zeit der Revolution zu stemmen gewesen sei. In diesen Zusammenhang der Rationalisierung und Vereinheitlichung stellte er sein Projekt einer umfassenden Kalenderreform, denn die Zeit bedürfe ebenso neuer Maße: Die alte Zeit sei »die Zeit der Grausamkeit, der Lüge, der Tücke und der Sklaverei« gewesen, die vorbei sei durch das Ende der Monarchie, »die Quelle aller unserer Leiden«. Mit der alten Zeitrechnung sei daher Schluss zu machen, der Kalender müsse gereinigt werden »von den Fehlern, die in Leichtgläubigkeit und abergläubischer Gewohnheit« jahrhundertelang weitergegeben wurden. Konkret hieß das: Die verführerische Klarheit des Dezimalsystems sollte auch auf die Zeitrechnung angewendet werden. Pathetisch sprach Romme zum Konvent: »Die Revolution hat die Seelen der Franzosen gestärkt; sie formt sie jeden Tag neu hin zu den republikanischen Tugenden. Die Zeit eröffnet der Geschichte ein neues Buch: Und in diesen Zeitlauf, der so majestätisch und so einfach ist wie die Gleichheit, wird sie mit einem neuen und kraftvollen Griffel die Annalen des erneuerten Frankreichs einzeichnen.«
    Kalenderumsturz hin oder her: Auch das revolutionäre Frankreich konnte sich nicht über die Vorgaben der Gestirne hinwegsetzen, mit denen noch jeder zu kämpfen hatte, der einen leistungsfähigen Kalender erstellen wollte, ob die Pharaonen Ägyptens oder die Gottkönige der Maya, ob der Kaiser von China oder der von Rom: Das Sonnenjahr wartet nicht mit einer glatten Anzahl Tage auf, sondern ist einen guten Vierteltag zu lang. Daneben sind auch die 365 ganzen Tage kaum gleichmäßig auf eine überschaubare Anzahl von Monaten aufteilbar. Dem Dezimalsystem drehen die Abläufe am Sternenhimmel erst recht eine lange Nase. Die klassische Einteilung in Monate geht auf die Mondphasen zurück, deren Zahl aber nicht durch die Tage des Sonnenjahres teilbar ist. Diese Probleme im Jahreszyklus muss jeder Sonnenkalender irgendwie lösen, und Romme wollte es ähnlich angehen wie die Ägypter oder die mittelamerikanischen Maya, die 360 Tage auf gleich lange Monate aufteilten und die überzähligen Tage ans Jahresende anhängten. Die Kalendertradition der Maya, die ansonsten schon wegen ihres Vigesimalsystems mit der Grundzahl Zwanzig andere Wege geht, konnte er nicht kennen. Die Ägypter aber lobte er recht mutig als das aufgeklärteste Volk der Antike und übernahm ihre Unterteilung des Jahres in zwölf Monate à 30 Tage und die überschüssigen fünf Tage als Anhängsel zum Jahresende. Die überzähligen Stunden des Sonnenjahres wollte Romme immer dann in einen Zusatztag packen, wenn sie sich angesammelt hatten, also etwa alle vier Jahre – der Zeitraum sollte nach griechisch-antikem Vorbild l’olympique heißen.
    Als Jahresbeginn schlug er den 22. September vor, nicht nur den Tag nach der Abschaffung der Monarchie, also den ersten Tag der Freiheit und Gleichheit des französischen Volkes, sondern passenderweise die Tagundnachtgleiche – dass die Natur so symbolträchtig im trauten Einklang mit den historischen Ereignissen stand, konnte schwerlich ignoriert werden. Natur und Vernunft waren schließlich die maßgeblichen Kategorien im Denken der Aufklärung. Noch dazu trat an diesem Tag die Sonne ins Sternbild Waage ein, wiederum ein Symbol der Gleichheit. Geradezu hymnisch klingt die Begeisterung für diese Launen der Natur –

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