Grandios gescheitert
– ganz ähnlich war den europäischen Zeitgenossen 1989 überwiegend bewusst, das Ende der Nachkriegsgeschichte hautnah mitzuerleben. Nach der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 begann man vom année de la liberté zu sprechen, vom Jahr der Freiheit, und später vom zweiten und dritten Jahr der Freiheit. Folglich musste man sich später darauf verständigen, ob die Folgejahre dieser Zählung jeweils am 14. Juli oder nach gewohnter Sitte am 1. Januar beginnen sollten – die Wahrnehmung einer neuen Ära kollidierte also bereits mit dem alten Kalender. Der 1. Januar ist zwar kein christliches Datum, sondern der Beginn des römischen Kalenderjahres, weil zu diesem Zeitpunkt die Ämter neu besetzt wurden. Trotzdem entzündete sich an der Frage des Jahresanfangs die Diskussion und ebnete den Weg zu grundlegenden Veränderungen der Kalenderwirtschaft.
Der Sturm auf die Tuilerien am 10. August 1792 wurde abermals als historischer Einschnitt betrachtet, sodass bereits eine weitere Jahreszählung vorgeschlagen wurde, die Jahre der Gleichheit, les années de l’égalité . Die revolutionäre Zeitrechnung begann, verwirrend zu werden, und es erwies sich als notwendig, sich auf eines unter den denkwürdigen Ereignissen der Revolution zu einigen, das der Rolle als Ausgangspunkt einer neuen Zählung am würdigsten war. Zunächst stritt man, ob nicht der Sturm auf die Bastille diesen Zweck erfüllen müsse – der 14. Juli ist immerhin bis heute das bekannteste Datum der Französischen Revolution und der französische Nationalfeiertag. Andere meinten, man könne nicht wirklich von Freiheit sprechen, solange die Monarchie noch bestand; passender sei also der 22. September 1792, der erste Tag der Franzosen als königloses Volk, nachdem der glücklose Ludwig abgesetzt worden war.
Als das Jahresende 1792 näher rückte, erhielt der Erziehungsausschuss den Auftrag, Lösungsvorschläge für dieses Problem zu erarbeiten. Beabsichtigt war, die gewohnte und die revolutionäre Zeitrechnung in Übereinstimmung zu bringen. Eine Möglichkeit dafür wäre gewesen, das erste Jahr der Freiheit am Republikgeburtstag beginnen, aber wie gewohnt am 31. Dezember enden zu lassen. Das erste Jahr hätte damit nur gut drei Monate gedauert, aber fortan wäre die neue Zeitrechnung synchron zum gewohnten Kalender zu rechnen gewesen: der 1. Januar 1793 als Beginn des Jahres II der Freiheit, das am 31. Dezember 1793 endet. Schon zur gregorianischen Kalenderreform hatte man ein paar Tage gestrichen, um die aufgelaufenen überzähligen Tage loszuwerden und das Kalenderjahr wieder in Einklang mit dem astronomischen Sonnenjahr zu bringen. Grund dafür war die komplizierte, weil mondphasenabhängige Berechnung des wichtigen Osterdatums. Die »verlorenen« Tage waren vielerorts beklagt worden, nicht zuletzt wegen ausbleibender Zinszahlungen.
Das revolutionäre Frankreich aber entschied sich für den ganz großen Wurf. Nicht nur mittels einer neuen Jahreszählung sollte die Kirche auf die Plätze verwiesen werden, denn der Einschnitt sollte weit darüber hinausgehen und nicht nur bei der Datierung von Briefen oder Urkunden, sondern im Alltag unübersehbar wirksam werden. Wie die Revolution die politische Macht des Ancien Régime sollte ihr neuer Kalender die Alltagsmacht der alten Ordnung brechen. In neun Monaten erarbeitete der Erziehungsausschuss in Abstimmung mit der Akademie der Wissenschaften einen revolutionären Umsturz in der Zeitrechnung, den republikanischen Kalender. Über die Diskussionen im Zuge dieser Erarbeitung in Abstimmung mit den besten Astronomen des Landes ist bedauerlicherweise wenig überliefert. Es gab durchaus warnende Stimmen vor einem so grundlegenden Eingriff, beispielsweise vom Abbé Sieyès, der sich vor allem in der frühen Phase der Revolution mit pointierten Schriften hervorgetan hatte. Sieyès meinte, die Zeit sei noch nicht reif für eine Kalenderreform: »Unsere Gewohnheiten und unsere vielfältigen Beziehungen zu den Gewohnheiten der uns benachbarten Völker und zu den Jahrhunderten, die unserem vorausgingen, haben doch ein zu großes Gewicht, als dass man sie umstoßen könnte.«
Großer Wurf statt kleines Reförmchen
Für die Erarbeitung des Revolutionskalenders steht vor allem der Name eines Mannes: Charles-Gilbert Romme. Nicht bekannt ist allerdings, seit wann er sich mit der Kalenderfrage befasste. Überdies konnte er auf einen Entwurf des Anwalts, Bibliothekars und Frühsozialisten Sylvain Maréchal aus dem
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