Grandios gescheitert
trägt. Da macht es wenig aus, dass der gregorianische Kalender nur die Modifikation des römischen Vorgängerkalenders ist, den seinerzeit Julius Caesar für die Erfordernisse eines Weltreiches flottmachte und der seinerseits auf den Kalendern von Ägypten und Babylon fußte. Das ändert nichts an der westlichen Prägung des Kalenders, der weltweit andere Traditionen der Zeitmessung zur bloßen Folklore oder zu reinen Ritualkalendern degradiert hat. Der gregorianische Kalender wurde zum Kalender der globalisierten Welt, ganz so wie der Westen sich als Weltstandard in vielerlei Hinsicht versteht. Und das ist doch zumindest zweifelhaft. Den kirchlichen Charakter des Weltkalenders aus dem Hause Christenheit nimmt aber selbst die westliche Welt nicht mehr vorrangig wahr. Zudem enthält er ja noch immer allerhand Unchristliches, beispielsweise die nach römischen Kaisern benannten Monate oder in vielen Sprachen die Bezüge der Wochentagsbezeichnungen auf heidnische Gottheiten.
Der Ballast des christlichen Kalenders
Den Revolutionären des Jahrzehnts von 1789 bis 1799 ging es neben der Abschaffung von Königtum und Ständeordnung darum, den Einfluss von Kirche und Religion – im christlichen Europa seit vielen Jahrhunderten eng mit der politischen Macht verbunden und von ihr korrumpiert – zurückzudrängen, wenn nicht zu brechen. Zwar war die Französische Revolution kein Projekt der Aufklärung, die das 18. Jahrhundert maßgeblich prägte, die Aufklärung lieferte aber theoretische Grundlagen für Veränderungen. Die Naturwissenschaften erlebten im 18. Jahrhundert nicht nur einen Aufschwung, sondern wurden auch zunehmend populär. Ihre nüchterne Herangehensweise, die der damaligen verklebten Frömmelei erfrischend zuwiderlief, wurde zum Anlass, mit glasklarem Verstand und mathematischer Ordnung an viele Probleme heranzugehen.
Ein Projekt, das seit geraumer Zeit propagiert und jetzt umgesetzt wurde, war das metrische System. Bis heute ist es uns ebenso geläufig wie einsichtig und das vielleicht beste Beispiel für die nachhaltige Einwirkung der Revolution jenseits der Politik – dann jedenfalls, wenn man sich bewusst macht, wie unübersichtlich, regional unterschiedlich und willkürlich Maße und Gewichte in früheren Zeiten gehandhabt wurden. Man könnte es also einreihen neben christlichen Kalender und kapitalistische Brause. In Frankreich (und anderswo) wurden nebeneinander Unmengen verschiedener Maßeinheiten verwendet, was viel Anlass zur Klage gab, die im Vorfeld der Revolution zunehmend unüberhörbar wurde. Anstrengungen zu einer Vereinheitlichung begannen alsbald, während der Bedarf nach einem ganz neuen Kalender einstweilen nicht dringlich erschien.
Und doch wirkt es durchaus folgerichtig und zugleich von bestechender Symbolkraft, wenn die Französische Republik in weithin ausstrahlender Geste der neuen Zeit, die sie mit dem Sturz der alten Ordnung einläutete, schließlich auch eine neue Zeitrechnung an die Seite stellte, um mit der alten Zeit der feudalen Ordnung und der Monarchie auf immer zu brechen. So einschneidend und unumkehrbar wie die Enthauptung Ludwigs XVI. auf der Pariser Place de la Concorde der jahrhundertealten Königsherrschaft ein Ende setzte, sollte die Einführung einer neuen Zeitrechnung die kalendarische Kontinuität des Alten unterbrechen. Damit ließ sich die Abkehr vom Bisherigen im Alltag, in den kleinen Dingen und Handlungen, eindrucksvoll versinnbildlichen – wie die Anrede »Monsieur« oder »Madame« zugunsten von »Bürger« oder das informelle »du«, wie die Vereinheitlichung der Maßeinheiten, wie der Bruch mit der Kirche als Ordnungsinstanz und die Einrichtung neuer Feste in bewusster Abkehr von religiösen Traditionen.
Der Umsturz in der Langzeitchronologie war ungeheuer symbolträchtig: Wie viele Jahrhunderte zuvor sich die Kirche nicht mehr damit hatte abfinden wollen, dass man die Jahre noch immer mit Bezug auf die Regierungszeit eines heidnischen Kaisers zählte, noch dazu eines Mannes, der die Christen unbarmherzig hatte verfolgen lassen, so sollte nunmehr die Jahreszählung ab Christi Geburt, oder jedenfalls ihres vermuteten Zeitpunkts, von der neuen Zeitenwende abgelöst werden: der französischen Republik. Das bedeutete nichts weniger als die überaus selbstgewisse Aussage, dass die Zäsur der Revolution bedeutsamer war als die der Geburt Jesu.
Diese Neuzählung lag auf der Hand, weil sich rasch das Gefühl verbreitete, einer Zeitenwende beizuwohnen
Weitere Kostenlose Bücher