Grandios gescheitert
und mit ihrem Niedergang die eigene Legitimation verspielt. Die Aufklärung hatte die Vernunft als Leitgedanke nach vorn gebracht, die Köpfe der Menschen erhellt und ihren Horizont erweitert. Das Volk hatte seine Stimme gefunden und seine Schlagkraft entdeckt. Und die Akteure der Revolution waren sich bewusst, dass sie das Unterste zuoberst kehren, dass die Umwälzungen bis auf den Grund reichen mussten. Geschichte lässt sich aber kaum eindrucksvoller abbilden als mit dem Beginn einer neuen Zeitrechnung, und die Revolutionäre teilten die Menschheitsgeschichte in die Zeit vor und nach der Revolution, so wie die römische Kirche, allerdings erst Jahrhunderte nach dem Ereignis, am Zeitpunkt der Geburt Jesu die Scheide für ein Davor und Danach ansetzte.
Aber selbst solche Zeitgenossen, die das Geschehen mit Abstand oder Abscheu beobachteten, verstanden die Ereignisse als etwas nie Dagewesenes, das die Welt erschütterte. Ob enthusiastisch oder ablehnend – dass hier Einschneidendes, die Welt Veränderndes vonstattenging, war weitgehend Konsens. Es spricht in der Tat viel dafür, mit dem Jahr 1789 die Moderne beginnen zu lassen, zumal sie den Fortschrittsgedanken als Kategorie einführte und die Tradition als Wert an sich in Zweifel zog.
Der gewohnte, ursprünglich römische Kalender, der aber längst christianisiert, überdies zwei Jahrhunderte zuvor durch Papst Gregor XIII. auf den neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnis gebracht worden war und seither gregorianischer Kalender genannt wurde, hatte sich eindrucksvoll behauptet. Zwar hatte die Kirchenspaltung infolge der Reformation zunächst auch eine kalendarische Spaltung bewirkt, weil sich die protestantischen Länder zierten, eine päpstliche Reform zu übernehmen, mochte sie wissenschaftlich auch noch so stichhaltig sein. Die Aufregung hatte sich seither aber spürbar gelegt. Dass der gregorianische Kalender höchst praktikabel ist, wissen wir bis heute, denn wir gestalten unseren Alltag noch immer nach ihm. So sehr sind wir an ihn gewöhnt, dass er zu jenen Alltagsinstrumenten gehört, deren tägliche Assistenz wir kaum noch wahrnehmen und selten würdigen. Das mag auch daran liegen, dass andere tägliche Begleiter schon mal ihren Dienst versagen, weil sie kaputtgehen können oder Strom brauchen zum Funktionieren.
Der Kalender versagt nicht, er lässt sich so zuverlässig konsultieren, wie die Zeit – jedenfalls unserer Auffassung nach – stets zuverlässig messbar ist, wenn auch unerbittlich verrinnt. Zur praktikablen Zeitmessung jedoch bedarf es einer sinnvollen Einteilung in Zeithappen und -häppchen – und die muss nicht nur den natürlichen Gegebenheiten wie Sonnenjahr und Sonnentag entsprechen, sondern auch allgemein akzeptiert sein. Zeitrechnung ist aber nicht bloß unschuldiges Alltags-, sondern ebenso sehr ein Machtinstrument. Das geht weit zurück bis auf vorgeschichtliche Schamanen, die für den Umgang mit der Zeit zuständig waren. Der kosmische (und unerklärliche) Charakter der Zeit und ihrer Messung führte zu einer engen Verbindung der Autorität des Glaubens mit politischer Herrschaft. Das gilt für das christliche Europa ebenso wie für Asien oder Altamerika. Nicht umsonst wachten die Herrscher über den Kalender – der den Alltag jedes Einzelnen sowohl symbolisch als auch konkret bestimmte.
So gesehen darf man sich durchaus einmal darüber wundern, dass die Welt nahezu ausnahmslos unseren westlichen, eigentlich christlichen Kalender benutzt, obwohl das Christentum ja keineswegs überall in der Welt vorherrschend, mitunter nicht einmal akzeptiert ist. Und doch dient die christliche Zeitrechnung selbst im 21. Jahrhundert ziemlich unangefochten als universaler Kalender, der auch in solchen Gegenden maßgeblich ist, in denen das Christentum gar keine oder nur eine geringe Rolle spielt. Darin spiegelt sich der Siegeszug des Westens wider – ketzerisch formuliert, spielte der christliche Kalender lange vor Coca-Cola die Rolle, die das US-amerikanische Limonadengebräu im 20. Jahrhundert einnahm: die Verbreitung nicht von Religion beziehungsweise Demokratie, sondern ihrer Errungenschaften in Sachen Alltagsmanagement beziehungsweise Genusskultur.
Aber komisch ist es gleichwohl, wenn in Weltgegenden, wo man einen Mann namens Jesus vielleicht nicht einmal kennt, die Jahre trotzdem nach seinem (mutmaßlichen) Geburtszeitpunkt gezählt und in die Wochen und Monate eines Kalenders unterteilt werden, der den Namen eines römischen Papstes
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