Granger Ann - Varady - 03
schön«, sagte sie nun. »Ich erzähle dir alles,
was du wissen willst. Ich gebe dir die Telefonnummer, und
du kannst sie anrufen. Aber du wirst ihnen nicht verraten,
wo sie mich finden können, in Ordnung? Das ist verdammt
noch mal das Letzte, was ich will, wenn sie sich in den Wagen setzen und herkommen.«
»Verstanden.«
»Ich schreibe dir ihre Adresse und die Telefonnummer auf.«
Keiner von uns hatte ein Blatt Papier zur Hand, doch ich
hatte einen Bleistiftstummel in der Tasche. Auf dem Tisch
lag eine Karte mit Weihnachtsangeboten des Cafés – Kaffee,
Kuchen, Sandwiches für zwei Pfund neunundvierzig, etwas
in der Art. Tig nahm die Karte, drehte sie um und kritzelte
auf die Rückseite.
»Sie heißen Quayle, Colin und Sheila Quayle. Mein richtiger Name ist Jane. So musst du mich nennen, wenn du mit
ihnen über mich redest.« Sie schob mir die Karte hin. Sie
hatte alles aufgeschrieben, Namen, Adresse und Telefonnummer.
Mir war ein Gedanke gekommen. »Du solltest vielleicht
eine persönliche Nachricht schicken oder mir etwas erzählen, das ich nicht wissen kann, es sei denn, ich kenne dich
oder deine Eltern sehr gut. Ich muss sie schließlich überzeugen, dass ich tatsächlich bin, für was ich mich ausgebe, und
dass du mich geschickt hast.«
Sie grinste schief. »Meinetwegen. Wünsch meiner Mum
alles Gute zum Geburtstag. Sie hat nämlich morgen Geburtstag.«
Es war persönlich, zugegeben, aber ich hätte doch lieber
eine andere Information gehabt.
Die praktischen Details zu berichten fiel ihr leichter als
das, was danach kam. Ich konnte sehen, wie sie mit sich
rang. »Jo Jo und ich«, begann sie, »wir hatten einen Platz, an
dem wir schlafen konnten, aber wir haben ihn verloren. Die
letzten Nächte haben wir drüben am Waterloo Way gepennt, in einer Unterführung. Kennst du sie vielleicht? Ein
großer, weiter Durchgang unter dem Straßensystem. Früher
haben jede Menge Leute dort gepennt, aber die meisten sind
weitergezogen. Sie bauen jetzt in der Gegend. Aber man
kann immer noch dort pennen, wenn man sonst nichts
weiß, wo man hingehen kann. Sie kommen natürlich ständig und versuchen, einen zu vertreiben.«
Ich nickte. Ich kannte die Stelle, die sie meinte. Dort hatte
früher Cardboard City gestanden, ein richtiges Camp von
Obdachlosen in dem Labyrinth unterirdischer Fußwege
zwischen Waterloo und dem South Bank Komplex. Ich hatte nie selbst dort geschlafen, doch ich war in der Blütezeit
mehrmals dort gewesen, entweder, wenn ich nach jemandem gesucht hatte, oder weil ich zufällig dort vorbeigekommen war. Jeder Bewohner hatte seinen Platz gehabt, mit
seinem Schlafsack und seinen Plastiktüten voll persönlicher
Besitztümer, seinen Hund, sein Transistorradio – einige
hatten sogar einen dreckigen alten Teppich ausgebreitet
oder einen zerbrochenen Lehnsessel aufgestellt oder zwei.
Manche waren jung gewesen, andere alt, manche bei gesundem Verstand, andere ganz eindeutig daneben. Manche hatten Jahre dort zugebracht. Als ich noch zur Schule ging, hatte unsere Kunstlehrerin über die Bilder eines Typen namens
Bosch gefaselt, der ein Zeug gemalt hatte, als wäre er high
wie nur irgendwas gewesen – doch sie hatte gesagt, es wäre
symbolisch zu verstehen. Cardboard City erinnerte mich an
die Gemälde von diesem Bosch – eine Welt voll eigenartiger
Dinge, die nur denen normal erschienen, die in dem Albtraum gefangen waren.
Doch selbst dort unten waren die Obdachlosen und Vertriebenen nicht sicher gewesen. Die Gegend wurde von Stadtplanern entwickelt, wie Tig berichtete – Luxuswohnungen
und ein Monsterkino sollten errichtet werden. Als die Männer mit den Sicherheitshelmen und Werkzeugen kamen,
wurde der Abschaum, die Menschen aus der Gosse von den
Straßen gekehrt und woanders abgeladen.
Tig wich meinem Blick aus, als sie fortfuhr, das Gesicht
nach unten gerichtet, das strähnige Haar in der Stirn. Ihre
Stimme klang erstickt. »Vor ein paar Nächten«, fuhr sie fort,
»ist jemand dort gestorben.«
Menschen starben auf der Straße. Das war nichts Ungewöhnliches. Ich wartete. Es musste noch mehr dahinter stecken.
»Ein junges Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie schlief
direkt neben uns. Sie hatte einen kleinen Hund. Ein netter,
freundlicher Hund. Manche Leute haben große, böse Hunde, die auf einen losgehen. Jo Jo hatte mal so einen, und ich
war froh, als er ihn verkauft hat. Man musste ihn ständig im
Auge behalten, damit er einen nicht angefallen hat. Jedenfalls, dieses
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