Granger Ann - Varady - 03
Mädchen … ich kannte ihren Namen nicht und
weiß auch sonst nichts über sie, aber ich hab mich an jenem
Abend eine Weile mit ihr unterhalten. Ich hab mich mit ihrem Hund angefreundet, und wir haben hauptsächlich über
das Tier gesprochen. Später ging sie noch irgendwo hin und
kam erst nach Mitternacht zurück. Sie hatte getrunken, ich
konnte den Alkohol riechen – und ich schätze, sie hatte auch
anderes Zeug genommen, das sie sich irgendwo geschossen
hat. Jedenfalls, am Sonntagmorgen ist sie nicht mehr aufgestanden. Hat sich nicht gerührt. Zuerst hat es keinen gekümmert, aber dann fing der Hund an zu jaulen und an ihr
zu schnüffeln. Ich bekam ein richtig ungutes Gefühl. Ich ging
zu ihr und schüttelte sie an der Schulter. Sie war schon kalt.
Ihre Augen standen offen und waren fast aus den Höhlen gequollen, und ihr Unterkiefer war herabgesunken und steif.
Sie sah grauenhaft aus. Es war der schlimmste Anblick, den
ich jemals gesehen hab. Wie in einem schlechten Horrorfilm,
nur viel, viel schlimmer, weil es kein Film war, sondern echt.«
Tig warf die strähnigen Haare in den Nacken und blickte
auf. Sie sah mir fest in die Augen. »In diesem Moment hab
ich gedacht, das bin ich. So werde ich enden, und zwar
ziemlich bald. So ist es doch, oder?« Sie sah mich herausfordernd an.
»Es sei denn, du unternimmst etwas dagegen«, antwortete
ich.
»Genau. Das dachte ich auch. Ich mache das nicht gerne.
Ich gehe nicht gerne nach Hause zurück und trete ihnen gegenüber. Vielleicht wollen sie mich nicht mal sehen. Aber
ich muss es versuchen, weil es der einzige Ausweg ist, den
ich habe. Manche Leute finden auf andere Weise hinaus. Sie
finden eine richtige Wohnung, wo sie bleiben können, und
eine Arbeit. Wie du. Du hast es auch geschafft. Du warst
immer geschickt in diesen Dingen. Aber ich … ich kann das
nicht. Ich habe nicht mehr genug Zeit dafür. Ich muss jetzt
sofort hier raus, oder ich bin tot, bevor es wieder Frühling
wird.«
»Mach dir keine Sorgen, Tig«, beruhigte ich sie. »Ich mache es.«
Sie entspannte sich ein wenig, und ich spürte einen beunruhigenden Stich. Sie verließ sich auf mich. Was, wenn ich
die ganze Sache vermasselte? Wenn ich am Telefon die falschen Dinge sagte? Es wäre Tigs Rettungsleine, die ich zerriss, nicht meine. Ich zwang mich, die Sorgen zu verdrängen. »Was würdest du davon halten, wenn du sie selbst anrufst und ich dann zu ihnen fahre …?«, fragte ich zögernd.
»Nein!«, antwortete sie heftig. »Ich werde nicht mit ihnen
reden, bevor … Sie würden viel zu viele Fragen stellen.«
Sie würden mir ebenfalls Fragen stellen, doch ich begriff,
was sie meinte. »Warum bist du überhaupt erst von zu Hause weggegangen?«, fragte ich. »Einfach, weil es mich interessiert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab dir erzählt, wie meine
Mum ist. Alles so perfekt. Dad ist noch viel schlimmer. Es
spielte keine Rolle, wie sehr ich mich in der Schule angestrengt habe, er fand immer etwas an meinen Leistungen
auszusetzen, nörgelte immer an mir herum. Ich war auf einer guten Schule, einer Privatschule, und sie haben dafür
bezahlt.«
»Ich war auch auf einer Privatschule«, sagte ich düster.
»Bis sie mich hinausgeworfen haben.«
»Dann weißt du ja, wie das ist. Eltern haben eine Menge
Geld ausgegeben und wollen Resultate sehen, oder etwa
nicht?«
Sie stocherte mit dem Messer in meinem Gewissen, obwohl sie das natürlich nicht wissen konnte. Ihre Eltern hatten das Geld für die Schule wahrscheinlich ohne allzu große
Schwierigkeiten aufbringen können, aber Dad und Großmutter Varady hatten es sich vom Mund abgespart. Als ich
von der Schule geflogen war, hatten sie nicht gestöhnt, sondern Mitgefühl gezeigt und sich zusammengerissen. Doch
ich wusste, dass ich sie enttäuscht hatte, und das würde
mein Gewissen belasten bis ans Ende meiner Tage. Bei Tig
lag die Sache allem Anschein nach anders. Sie hatte hart für
die Schule gearbeitet, und es hatte nicht gereicht.
»Er – mein Vater – hat immer wieder von der Universität
gesprochen«, berichtete Tig. »Aber ich wollte nicht zur Universität. Er sagte, ohne Universitätsabschluss würde ich niemals einen wirklich guten Job finden. Er redete immer wieder
auf mich ein. Und Mum sagte immer wieder den gleichen
Mist. ›Du kannst unmöglich auf die Straße gehen, wie du
aussiehst!‹ oder ›Pass gut auf, wen du dir als Freundin aussuchst!‹ und natürlich ›Du hast keine Zeit, um an Jungs zu
denken, du musst
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